BELARUS!. Группа авторов
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СКАЧАТЬ und neue faire Wahlen. Und genau das versprach Tichanowskaja: Sollte sie gewinnen, würde sie innerhalb von sechs Monaten neue Wahlen initiieren. Sie sah sich also als Übergangskandidatin.

      Swetlana Tichanowskaja hatte nie vor, in die Politik zu gehen, sie kümmerte sich um ihre Kinder, nachdem sie früher als Dolmetscherin aus dem Englischen gearbeitet hatte. In ihren Reden konzentrierte sie sich auf Familienwerte, Kinder und Liebe und betonte immer wieder, dass ihr verhafteter Ehemann Sergej ursprünglich der Hauptgrund für ihr politisches Engagement gewesen sei. Mit der Zeit stand sie jedoch nicht nur für seine Freiheit, sondern auch für die Freiheit aller Belarus*innen. Sie sah sich zwar als schwache und „einfache“ Frau, wurde allerdings nach Wochen voller Kundgebungen vor den Wahlen immer stärker. Wenn alles vorbei sei, würde sie wieder „ihre Bouletten braten“, sagte sie. Ihre Ansichten änderten sich auch nach den Wahlen nicht, als sie Belarus verlassen musste und zu einer international bekannten Oppositionsfigur wurde.

      Maria Kolesnikowa war dazu in gewisser Weise der Antipode – sie sah sich als freie Weltbürgerin und erwähnte in ihren Interviews den Wert des Feminismus. Sie hatte eine erfolgreiche Karriere im Kreativbereich und arbeitete als Musikerin und Artdirektorin. Die gebürtige Belarusin lebte und arbeitete lange Zeit in Deutschland und anderen europäischen Staaten und lernte die Werte von Demokratie und Freiheit in der Praxis kennen. Sie wurde bereits im Team von Babariko sichtbar: Ihre Botschaften („Wir sind legitim!“, „Belarusen, ihr seid unglaublich!“) erreichten eine breite Öffentlichkeit. Von den drei Frauen war sie die einzige, die nach den Wahlen in Belarus blieb und sogar ihren Pass zerriss, als Geheimdienste versuchten, sie außer Landes zu schaffen, was zu ihrer Verhaftung führte.

      Veronika Zepkalo galt als Kombination aus beiden Elementen: eine selbstbewusste, erfolgreiche Managerin bei Microsoft, eine liebevolle Frau und Mutter. Bei der ersten gemeinsamen Pressekonferenz machte sie deutlich, dass die belarusische Verfassung auch für Frauen geschrieben sei und dass Frauen in Belarus Männern gleichgestellt seien. Diese Aussage war eine deutliche Antwort an Lukaschenko, der das Gegenteil insinuiert hatte. Gleichzeitig unterstützte sie Swetlana Tichanowskaja als Mutter und Ehefrau – so sah für sie „Frauensolidarität“ aus. Schließlich betonte sie in ihren Interviews, es gebe nur einen Politiker in ihrer Familie, und das sei ihr Ehemann Valeri Zepkalo.

      Diese Kombination von traditionellen und feministischen Werten in den Botschaften des „Frauentrios“ spielte offensichtlich eine wichtige Rolle für ihre breite Popularität, weil sehr unterschiedliche Zielgruppen damit angesprochen wurden. Die schüchterne und liebevolle Tichanowskaja war ein perfekter Prototyp für einen erheblichen Teil der Belarus*innen, die eher traditionelle Werte teilten – sie wurde eine Art „politisches Aschenputtel“. Menschen unterstützten sie aus Solidarität, Mitgefühl und Bewunderung für ihren Mut.

      Gleichzeitig kamen feministische Botschaften von Kolesnikowa und die aufbauenden Reden von Zepkalo bei den Anhänger*innen der Frauenpower gut an. Patriarchalische Hierarchien und Sexismus sind in Belarus sehr präsent – sowohl im öffentlichen Raum als auch am Arbeitsplatz oder zu Hause. Frauen sind ständig geschlechtsspezifischen Stereotypen und Diskriminierungen ausgesetzt. Belarusische Frauen scheinen allerdings laut jüngsten Umfragen weniger patriarchalisch geprägt zu sein als Männer. Das „Frauentrio“ gab ihnen eine Chance, sich selbst und ihre eigenen Stärken besser kennenzulernen, es motivierte tausende Belarusinnen zu friedlichen Frauenprotesten nach den Wahlen.

      Schlusswort: Menschenrechte

      Wahlfälschungen und Repressionen kannte Belarus auch früher schon; nie zuvor allerdings traf die staatlich sanktioniere brutale Repression so viele Menschen persönlich oder über ihre Bekanntenkreise. Menschen sahen mit eigenen Augen, warum faire Wahlen wichtig sind und warum Menschenrechte geachtet werden müssen.

      Dabei hatte eine Pact-Studie von 2017 gezeigt, dass die Befragten die Achtung der Menschenrechte, des menschlichen Lebens und der individuellen Freiheit für sich selbst als doppelt so wichtig eingeschätzt hatten wie für die Gesellschaft insgesamt. Das heißt, die Belarus*innen glaubten damals, dass diese Werte für andere Menschen nicht so wichtig waren wie für sie selber. Solidarität und Politisierung haben diese Trennlinien zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft nun verwischt.

      BELARUS ALS FRAU UND DIE FRAUEN VON BELARUS

      Ein Selbstbild der Nation

       Marina Scharlaj

      Belarus – jana maja. Belarus ist weiblich. Eine Plakatlosung setzt ein Statement. Auf Belarusisch formuliert, betont sie einerseits das grammatische Geschlecht des Toponyms. Andererseits und vielmehr wird damit das weibliche Gesicht des Widerstandes skizziert: Im Vordergrund das junge, weibliche Trio, das den amtierenden, für seine patriarchalen Ansichten bekannten Langzeitpräsidenten in der Wahlkampagne herausforderte. Gefolgt von Frauen, die nach dem Wahlergebnis und vier Nächten der Gewalt gegen Männer auf die Straße gingen. In Weiß gekleidet, mit Blumen und mitten am Tag stellten sie sich – im starken Kontrast – den schwarz vermummten Polizisten der OMON-Einheit.

      Zu Symbolfiguren des Widerstandes wurden viele: die Hausfrau Swetlana Tichanowskaja, die Flötistin Maria Kolesnikowa, die Rentnerin Nina Baginskaja, die Malerin Nadzja Sajapina, die Sportlerin Alena Leŭčanka, die Bikerin Jana … Die Gesichter dieser Frauen wurden und werden auf Plakaten und Flugblättern, auf T-Shirts, in sozialen Netzwerken, Graffiti und anderen Formen von Street-Art abgebildet. Eine der ersten Ikonen des Protests ist förmlich ein Frauenbild – Chaim Soutines Gemälde „Eva“. Das bekannte Porträt wurde von der Regierung aus der Kunstsammlung des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko konfisziert und daraufhin von den kritisch gesinnten Kulturschaffenden mehrfach reproduziert. So war Soutines „Eva“ hinter Gittern, im Sträflingsanzug, mit Victory-Zeichen oder auch mit einem rotlackierten Stinkefinger zu sehen. Wenig später, als der Protest breite Massen erreichte, tauchte im Belarusischen der Neologismus Evaliucyja auf. Und er trifft den Kern. Er steht für einen weiblich initiierten, betont friedlichen, ausgesprochen solidarischen und durchaus kreativen Protest. Für einen Protest, der vielleicht noch nicht als eine Revolution (revaliucyja) bezeichnet werden kann, und dennoch nicht weit davon entfernt ist. Fakt ist: Unabhängig vom Ausgang der aktuellen Ereignisse geht dieser Protest in die Geschichte ein.

      Dabei wurde die Geschichte von Belarus bisher vorwiegend von Männern geschrieben. Nur wenige Frauen, wie etwa Fürstin Rahnieda, die Aufklärerin Euphrosyne von Polack oder die Schriftstellerin Franciška Uršula Radzivill finden in Lehrbüchern als berühmte Persönlichkeiten der weit zurückliegenden Vergangenheit Erwähnung. In der neueren Geschichte sind sie eher unsichtbar. Die Unsichtbarkeit von Frauen in gesellschaftspolitischen Diskursen ist kein spezifisch belarusisches Phänomen. Das Besondere im Fall von Belarus ist eine lange Unsichtbarkeit der Titularnation als solcher. Die historische Zugehörigkeit zu mächtigeren Nachbarn führte dazu, dass die Belarus*innen unter anderem als „verspätete“ oder „defizitäre“ Nation, als ein „kleines“ Volk, und das von ihnen bewohnte Territorium als „weißer Fleck“ apostrophiert wurden. In literarischen, publizistischen und medialen Texten und nicht zuletzt auch im politischen Diskurs wurde die belarusische nationale Identität lange Zeit wenn nicht mit einer Null-Metaphorik ganz getilgt, so doch mit Inferioritätsmerkmalen attribuiert.

      Über die genannten Fremdzuschreibungen und Konnotationen hinaus sind bereits im Toponym Belarus zahlreiche Entwürfe eines nationalen Selbstbildes enthalten. Intellektuelle finden darin eine schicksalhafte Komponente und entfalten im Diskurs über das Belarusische wiederkehrende Motive und Mythologisierungen: ein „weißes“, unerforschtes Gebiet, Terra incognita, ein namenloses Land, ein Gespenst … Wird das Bild des Landes konkreter umrissen, so erscheint es als eine Gestalt, die von den Gepflogenheiten des Dorfes geprägt ist und in einem Sumpf zu versacken droht. Das Femininum Belarus lädt ferner geradezu dazu ein, СКАЧАТЬ