Название: BELARUS!
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
Серия: edition.fotoTAPETA_Flugschrift
isbn: 9783949262005
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Auch in anderen postsowjetischen Autokratien haben fehlende wirksame staatliche Maßnahmen gegen die Pandemie zur Aktivierung von Bürgergruppen geführt. In Belarus haben diese Entwicklungen allerdings den Wahlprozess erheblich beeinflusst – diese „ausgeübte“ Solidarität und das neue Vertrauen zu Mitbürger*innen trugen ohne Zweifel zur gegenwärtigen Politisierungswelle in der belarusischen Gesellschaft bei.
Politisierung der Gesellschaft
Die während der Pandemie wachsende Politisierung breiter Bevölkerungsschichten wurde mit der Wahlkampagne ab Mai intensiviert. Man konnte plötzlich einen Aktivitätsschub bei den Bürger*innen beobachten, und die Wahlkampagne wurde überraschend sowohl für Belarus*innen als auch für internationale Betrachter zu einer Art „Reality-Show“.
Eine Rekordzahl von 55 Initiativgruppen reichte Anträge ein, um Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahl zu nominieren. Der frühere Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, konnte in nur einer Woche fast 9.000 Freiwillige für seine Initiativgruppe online rekrutieren. Zum Vergleich: Präsident Lukaschenko konnte mit seinen enormen Ressourcen rund 11.000 Personen registrieren. In einem Monat (21. Mai – 19. Juni) waren landesweit über 127.000 Menschen an der Sammlung von Unterschriften für potenzielle Kandidat*innen beteiligt; ein großer Teil davon, wenn nicht die Mehrheit, war vorher nie politisch aktiv gewesen.
Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Altersgruppen standen landesweit in endlosen Warteschlangen, um ihre Unterschriften für alternative Kandidat*innen abzugeben. So kam die damals unbekannte Swetlana Tichanowskaja, die an Stelle ihres verhafteten Mannes, des bekannten Youtube-Bloggers Sergej Tichanowski kandidieren wollte, auf über 100.000 Unterschriften. Viele wussten nicht einmal, wie sie hieß oder wo sie arbeitete – Menschen unterzeichneten aus Solidarität und aus Protest gegen Lukaschenko.
Aus diesen Warteschlangen wurden nach der Inhaftierung von Viktor Babariko, dem bis dahin wichtigsten Konkurrenten für Lukaschenko, die spontanen Solidaritätsketten von Menschen im ganzen Land. Als am 15. Juli keiner der populären Alternativkandidaten für die Wahlen registriert wurde, rief das Wahlteam von Babariko Belarus*innen dazu auf, Beschwerden bei der Zentralen Wahlkommission einzureichen – am nächsten Tag bildete sich vor dem Gebäude der Wahlkommission in Minsk eine mehrere Kilometer lange Schlange. Es wurden über 5.000 Beschwerden eingereicht – ein für Belarus einzigartiger Grad politischer Aktivität.
Das spontan und aus Not gebildete, aber sofort populär gewordene „Frauentrio“ Tichanowskaja, Kolesnikowa und Zepkalo besuchte innerhalb von drei Wochen 13 Städte und zog bei ihren Kundgebungen in den Regionen bis zu fünf Prozent der Bevölkerung an – eine unerhörte Zahl für die traditionell passiven belarusischen Wähler*innen. In Minsk fand am 30. Juli die größte Wahlkundgebung in der belarusischen Geschichte statt, die von 60.000 bis 70.000 Menschen besucht wurde. Die drei Frauen wurden wie Rockstars behandelt: Menschen fragten sie nach Autogrammen und Bildern, zeichneten Gemälde mit ihnen, trugen Kleidung mit den Triosymbolen und sangen mit ihnen die Oppositionshymne Mury (Mauern).
Auch zur Wahlbeobachtung wurden Belarus*innen mobilisiert wie nie zuvor: In den ersten fünf Tagen nach der Ankündigung der Wahlbeobachtungsinitiative des Teams Babariko bewarben sich rund 5.000 Menschen, und bis zu den Wahlen stieg diese Zahl auf fast 10.000. Dazu kamen Kampagnen der Menschenrechtsorganisationen. So kam es letztendlich zu den schon zur „Tradition“ gewordenen Warteschlangen auch am Wahltag – sowohl in Belarus als auch im Ausland vor den Botschaften. Eine derart hohe Wahlbeteiligung hatte Belarus noch nie erlebt.
Damit sind Solidaritätsketten und Warteschlangen in gewisser Weise zum Symbol der Präsidentschaftswahlen 2020 geworden. Und diese Tradition fand auch nach den Wahlen eine Art Fortsetzung: Frauen, Studierende, Ärzte, einfache Bürger*innen sammelten sich in Solidaritätsketten gegen staatliche Gewalt, während sich Schlangen von Käufer*innen vor Geschäften bildeten, die in der einen oder anderen Form Solidarität mit der Protestbewegung zeigten – so wollten die Belarus*innen sie zumindest finanziell unterstützen.
Auflösung des „Gesellschaftsvertrags“
Die Legitimität von Lukaschenko beruhte über viele Jahre auf einem sogenannten „Gesellschaftsvertrag“: Der Staat sorgte für relativ stabilen Wohlstand und für Sicherheit (geringe Kriminalität und keine kriegerischen Konflikte), während die meisten Belarus*innen politisch inaktiv bleiben und den Status quo unterstützen sollten. Um diesen ungeschriebenen Vertrag stand es allerdings bereits seit mehreren Jahren schlecht und schlechter.
Bereits 2017 kam es zu landesweiten Protesten gegen eine jährliche „Sozialparasitensteuer“. Die neue Steuer war so hoch wie ein durchschnittlicher Monatslohn und sollte für Bürger*innen gelten, die in den letzten sechs Monaten nicht gearbeitet hatten und daher keine Einkommenssteuer entrichteten. Ein weiteres Beispiel: In Brest, einem der regionalen Zentren des Landes, versammelten sich seit über zweieinhalb Jahren jeden Sonntag Menschen in der Innenstadt, um gegen eine neue, offenkundig gesundheitsschädliche Batteriefabrik in der Nähe der Stadt zu protestieren. Die Dauer dieser Proteste ist für Belarus beispiellos. Umfragen haben gezeigt, dass der Anteil der Anhänger*innen von Lukaschenko unter Rentner*innen, Landbevölkerung und „normalen“ Bürger*innen von 68 Prozent im Jahr 2006 auf 32 Prozent im Jahr 2016 gesunken war, eine Halbierung innerhalb von zehn Jahren. Die Pandemie beschleunigte schließlich die Auflösung des „Gesellschaftsvertrags“.
Wirtschaftliches Wohlergehen
Die Covid-19-Pandemie hat die Volkswirtschaften weltweit getroffen, Belarus ist hier keine Ausnahme. Im April 2020 prognostizierte der Internationale Währungsfonds für Belarus einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 6 Prozent für das laufende Jahr; im Jahr 2019 lag das Wachstum noch bei 1,2 Prozent. Online-Umfragen bestätigten, dass sich die Wohlstandswahrnehmung der Belarus*innen im Frühjahr erheblich verschlechterte. Nach einer Untersuchung der Institute SATIO / BEROC verzeichneten 45 Prozent der Befragten im März und 52 Prozent im April einen Einkommensrückgang, während fast die Hälfte der Befragten in naher Zukunft einen starken wirtschaftlichen Einbruch erwartete. Innerhalb eines Monats verdoppelte sich der Anteil der Menschen, die Angst vor Arbeitslosigkeit äußerten, von 20 Prozent im März auf 40 Prozent im April. Jeder fünfte Befragte kannte jemanden, der den Job bereits verloren hatte. Insgesamt wuchs der Anteil der Belarus*innen, die ihre Wirtschaftssituation als schlecht einschätzten, von 38 Prozent Ende 2019 auf 61 Prozent im März 2020 – der größte Anstieg in 20 Jahren.
Corona und die Arroganz des Präsidenten
Trotzdem hätten wirtschaftliche Faktoren allein kaum ausgereicht, um diese neue Welle der Politisierung auszulösen. Die Belarus*innen sind es gewohnt, unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu leben. Die miserable Kommunikation des Staates während der Pandemie trug wesentlich zur Politisierung der Bevölkerung bei.
Informationen des Gesundheitsministeriums wurden der Öffentlichkeit nicht regelmäßig zugänglich gemacht, stimmten nicht immer mit den Zahlen des Präsidenten überein und wurden oft in eher arrogantem Ton verbreitet. Auf Anfragen nach Informationen über die Anzahl der Pandemieopfer beim medizinischen Personal etwa reagierten zuständige Beamt*innen mit der Frage: „Und wozu brauchen Sie diese Statistiken?“
Die größte Kluft zwischen Staat und Bevölkerung wurde jedoch womöglich vom Präsidenten selbst verursacht, der während der Pandemie einen markanten Mangel an menschlichem Einfühlungsvermögen und eine überraschende Arroganz an den Tag legte. Seine aggressive Sprache ließ nur wenige soziale Gruppen aus. Sie traf Corona-Opfer („Wie kann man mit einem Gewicht СКАЧАТЬ