BELARUS!. Группа авторов
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СКАЧАТЬ Tote unter den Protestierenden bis zu diesem Datum – das Regime wehrt sich mit seinen Mitteln.

      Und es wird der Lage nicht mehr Herr. In Belarus ist eine ganze Gesellschaft erwacht und will keine Ruhe mehr geben.

      Die Revolution in Belarus hat viele Gesichter. Die Proteste gegen die offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen werden von Menschen aller Schichten getragen – Arbeiter, Rentnerinnen, Kulturschaffende, IT-Fachleute, Studierende – alle gehen sie auf die Straße. Die Bilder in Weiß gekleideter Frauen mit Blumen vor bewaffneten schwarz vermummten „Sicherheitskräften“ gingen um die Welt, und sie sind eindrucksvoll.

      Der Eindruck ist nicht falsch: Der Aufstand im Land ist ein Aufstand der Frauen, wenn auch nicht allein der Frauen. Aber was genau ist das „weibliche Gesicht“ der Revolution: eine reale Kraft, ein medialer Effekt? Kitsch mit weiterhin patriarchalem Unterbau oder zukunftsweisende Dynamik des gesellschaftlichen Umbaus?

      Mancher tut sich schwer, den Aufstand der Frauen ernst zu nehmen – ist er doch eine durch und durch moderne Umwidmung des Begriffs der Revolution. Und er ist auf noch zu erkundende Weise eine Neufassung des Feminismus – ohne dass wir es mit spezifisch feministischen Aktionen zu tun hätten.

      Auch Jeanne d’Arc ist nicht allein in ihrer Rüstung in die Schlacht gezogen, es wird manchen armen Hund gegeben haben, manchen Jean ohne Namen, der geblutet hat. Aber jeder Umbruch findet sein eigenes Bild. In Belarus prägen dieses Bild die Frauen. Wie lässt sich ihre Selbstermächtigung erklären? Und was geschieht mit einer Gesellschaft, die in ihrer Suche nach einem neuen Selbstverständnis aus einer langen Passivität erwacht ist?

      Niemand kann sagen, was sein wird, wenn dieses Buch fertig gedruckt ist und gelesen wird, ob die friedfertige Revolution in Belarus sich – wie auch immer – durchsetzt; ob das Regime noch brutaler zuschlägt und ein Blutbad anrichtet; ob der mächtige Nachbar im Kreml eine Entscheidung nach seiner Façon herbeiführt. Was man aber bereits heute sagen kann: Der Aufstand hat das Land verändert in einer Weise, die kaum jemand erwartet hatte – und die sich nicht mehr rückgängig machen lässt.

      Wir versammeln hier vielstimmige Texte, die helfen sollen, das Geschehen in Belarus nachzuvollziehen und in einen breiteren Kontext zu stellen. Unsere Autorinnen gehen auf historische Hintergründe ein, auf Symbole, Chiffren und Klänge der Revolution, auf Repressalien und zivile Selbstorganisation, auf Frauenbilder, Partisaninnen und kollektive Traumata, auf wirtschaftliche Aspekte, auf die Rolle Russlands und Europas.

      Befragt nach seinen Leseempfehlungen für ein besseres Verständnis des aktuellen Geschehens in Belarus, sagte der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan: „Vielleicht ist es in dieser Situation am besten, nicht die Experten und die Politologen zu lesen, sondern die Leute, die direkt an den Ereignissen teilnehmen. Das sind äußerst subjektive, dafür maximal offenherzige Berichte, und ich denke, dass sie die jetzige Situation in Belarus am genauesten charakterisieren.“

      Diesem Rat wird vielleicht die Sammlung chronologisch geordneter Stimmen ganz unterschiedlicher Akteurinnen gerecht, die wir hier präsentieren. Wir entnehmen sie der Facebook-Seite Stimmen aus Belarus, die viele unmittelbare Äußerungen gesammelt und auf Deutsch veröffentlicht hat. Dazu kommen eine Chronik der Ereignisse sowie Dokumente, die uns für das Verständnis des Geschehens wichtig erscheinen und, nicht weniger wichtig, Gedichte. Dieses Buch ist Geschichtsschreibung des Augenblicks.

       Die Herausgeber*innen

      DIE KRAFT DES UNWISSENS

       Iryna Herasimovich

       Für Ute Siebert

      „… es ist diese Offenheit, oder dieses noch nicht Geschlossene,

      was das Bild so lebendig macht …“

       Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche. Edvard Munch und seine Bilder

      Immer wieder lege ich diesen Essay beiseite und schreibe einen anderen Text, ein Tagebuch, in dem ich mir alles erlaube. Da bin ich mal böse, mal erfreut, mal enttäuscht, mal neidisch oder begeistert. Einiges aus dem Tagebuch sickert auch in diesem Text durch, allerdings nicht alles, die Selbstzensur ist in den letzten Monaten enorm. Nicht wegen des staatlichen Systems. Dass man da nie weiß, welche Regeln gelten und wann man sie bricht, daran habe ich mich schon längst gewöhnt. Die Selbstzensur ist vielmehr mit der Vorsicht verbunden, etwas falsch gesehen und interpretiert zu haben, jemandem zu nahe zu treten, etwas unvorsichtigerweise zu zerbrechen, das womöglich noch gar nicht so gefestigt, aber sehr wertvoll ist.

      Eigentlich ist es für mich noch zu früh zum Schreiben, ich würde gerne Feldforschungen betreiben, beobachten und fixieren, was ich sehe und fühle. Im Moment ist es gar nicht so selbstverständlich festzuhalten, was man wirklich fühlt. Immer wieder bekommt man tolle Bilder und Videos zu sehen, in denen alles so klar ist: da die Bösen, die Dunklen, die Verkörperung der Gewalt und Dummheit, hier die Reinen und Guten, alles entweder schwarz oder weiß-rot-weiß, „keine Schattierungen dazwischen“, wie es in einem der Protestlieder heißt. Und man atmet erleichtert durch, in den ersten Sekunden zumindest, dann kommen Fragen und Zweifel hoch, gleich von der Scham begleitet, wie kann ich es nur wagen, das Gute und Schöne zu hinterfragen. Es ist doch so klar: da die maskierten Männer, hier die weißen, barfüßigen Frauen mit Blumen, die „für ihre Männer“ auf die Straße gehen. Darf man denn überhaupt hinterfragen, welches Frauenbild dadurch vermittelt wird, ob dieses Bild nicht die bereits bestehenden patriarchalen Strukturen festigt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht erst später. Vielleicht aber gerade jetzt. Ich weiß es nicht.

      Ist es okay, wenn man die weiß-rot-weiße Fahne zwar ästhetisch schön findet und als sichtbaren Ausdruck des Protests sehr anziehend, aber sie nicht gerade überall um sich herum haben will? Fahnen lassen mich nämlich grundsätzlich ziemlich kalt. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendeine Fahne um die Schultern zu tragen. Gehöre ich dann immer noch zu den erwachten Belarusen? Gehöre ich dann zu diesem Wir, das siegen soll? Ich wünsche mir im Moment nichts sehnlicher, als dass wir siegen, komme aber nicht umhin, daran zu denken, wer denn genau dieses Wir ist und was „siegen“ bedeutet.

      Ich kenne in Bewegung geratene Räume aus meiner Arbeit als Übersetzerin und weiß, wie gefährlich es sein kann, das scheinbar Offensichtliche nicht gründlich nach Bedeutungen und Konnotationen abgeklopft zu haben. Es kann sein, dass das Offensichtliche viel mehr Sinnschichten aufweist, als auf den ersten Blick sichtbar waren. Dann muss man zurück und von neuem im ganzen Text überprüfen, ob man alle Bedeutungen eingefangen hat. Und selbst dann ist man unsicher, ob man alles weiß.

      Im Übersetzerberuf gehört das Zulassen des Unwissens, die Bereitschaft zu Wissenslücken zur Professionalität. Es fördert die Hellhörigkeit. Unwissen bedeutet nicht, dass man nicht handelt, das tut man durchaus, aber eben stets mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass jede Lösung überprüft werden muss. Man hält den entstehenden Text die ganze Zeit offen und tastet ihn in viele Richtungen ab. Das wünsche ich mir auch für den Neuanfang der belarusischen Gesellschaft. Derzeit fürchte ich mich vor Menschen, die genau zu wissen scheinen, was in Belarus passiert, wie gehandelt werden soll und was weiter kommt. Solche Menschen verteidigen ihre Ansichten oft ziemlich hart. Das gesicherte Wissen scheint nur in einem von jedem Hinterfragen gereinigten Raum überlebensfähig zu sein. Das vermeintliche Wissen, wer wie ist, führt dazu, dass es inzwischen gar nicht viel braucht, um das Label „Lukaschist“ oder „Lukaschistin“ angehängt zu bekommen. Es reicht schon, irgendwelche Aussagen oder Handlungen der Führerinnen oder Führer der Opposition in Frage zu stellen. Das ist mir auch schon passiert, als ich zum Beispiel kritisierte, dass Swetlana Tichanowskaja von dem „weisen Moskau“ spricht und nicht mit Fragen über die Krim gequält СКАЧАТЬ