Название: Die Todesstrafe I
Автор: Jacques Derrida
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen forum
isbn: 9783709250389
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Zweite Sitzung
15. Dezember 1999
Was ist eine Ausnahme [exception]?
Mehr als ein Mal haben wir letztes Jahr auf dem absoluten Ausnahme-Charakter insistiert, den die Vergebung behalten müsse, eine Vergebung, die dieses Namens würdig ist, eine Vergebung, die immer unvorhersehbar ist und weder auf die Feststellung [constat] noch auf den Vertrag [contrat], das Bestimmungsurteil oder das Gesetz reduziert werden kann, eine Vergebung also, die immer außerhalb des Gesetzes steht, immer heterogen ist gegenüber der Ordnung, der Norm; gegenüber der Regel oder dem Kalkül, der Regel des Kalküls, dem ökonomischen Kalkül ebenso wie dem juridischen Kalkül. Exzeptionell muss, exzeptionell sollte jede Vergebung sein, die dieses Namens würdig ist, wenn es denn je eine gibt, das ist im Grunde genommen das Gesetz der Vergebung: Sie ist es sich schuldig, ohne Gesetz und exzeptionell zu sein, über den Gesetzen oder außerhalb der Gesetze zu stehen.
Es bleibt jedoch die Frage: Was ist das, eine Ausnahme? Kann man diese Frage stellen? Gibt es ein Wesen der Ausnahme, einen adäquaten Begriff dieses unterstellten Wesens?
Man kann das bezweifeln, und dennoch gebrauchen wir dieses Wort ganz geläufig, so als ob es eine gesicherte semantische Einheit besäße. Wir tun regelmäßig so, als ob wir wüssten, was eine Ausnahme ist, oder, genauso gut, was keine Ausnahme ist, als ob wir über ein passendes Kriterium verfügten, um eine Ausnahme oder den Ausnahmecharakter einer Ausnahme, im Grunde genommen die Regel der Ausnahme zu identifizieren, die Regel, um zwischen dem Exzeptionellen < und > dem Nicht-Exzeptionellen zu unterscheiden – was terminologisch jedoch absurd oder widersprüchlich zu sein scheint. Gleichwohl spricht man üblicherweise von der Ausnahme, von der Ausnahme von der Regel, oder von der Ausnahme, die die Regel bestätigt; es gibt sogar ein Ausnahmegesetz, es gibt Ausnahmegesetze, Ausnahmetribunale usw.
Ich wette, dass diese Problematik der Ausnahme uns nicht mehr loslassen wird und dass sie zweifellos die vertrauenswürdigste Verbindung zwischen der Frage der Vergebung, des Eidbruchs und der Todesstrafe sein wird. Das ist es zumindest, was ich heute oder morgen, beim nächsten Mal, im Jahre 2000, zu zeigen beginnen möchte, auf beziehungsweise nach einem gewissen Umweg.
Denn an diesem Punkt meiner Einführung angekommen, frage ich mich, welchen Leitfaden ich bevorzugen soll, um mich im Wald der Probleme und im riesigen und dichten Archiv der Todesstrafe zu orientieren. Schon allein die begriffliche Abgrenzung ist eine furchteinflößende Vorbedingung. Es ist einfach, vielleicht zu einfach – wenn man auch in der Tat damit beginnen muss –, daran zu erinnern, dass die Todesstrafe ein juristischer Begriff ist, der sich insofern, als er in den Bereich des Strafrechts, das heißt eines Ensembles von berechenbaren Regeln und Vorschriften fällt, vom singulären Mord [meurtre] und von der partikulären Rache unterscheidet und de jure, also im Prinzip, die Intervention eines Dritten impliziert, einer Schiedsinstanz, die den Parteien eines Streifalls gegenüber fremd oder ihnen übergeordnet ist, also par excellence oder zumindest virtuell die Instanz eines Staates, einer Institution juridisch-staatlichen, juridisch-politischen Typs, ja sogar einer Staatsräson, einer Rationalität, eines logos mit allgemeinem beziehungsweise universellem Anspruch, einer juridischen Vernunft [raison], die sich über die Parteien, über das Partikularinteresse und die Leidenschaft, das pathos, das Pathologische und den individuellen Affekt erhebt. Der Eindruck von Kälte, von eiskalter Empfindungslosigkeit, der uns angesichts des Diskurses, des Urteilsverfahrens oder des Vollstreckungsrituals der Todesstrafe häufig überkommt, dieser Eindruck von leichenhafter Kälte oder von Starrheit [rigueur] als rigor mortis, das ist auch oder zunächst Ausdruck dieser Macht oder dieses Machtstrebens der Vernunft; das ist die Behauptung einer unerschütterlichen Rationalität, die sich über das Herz, über die unmittelbare Leidenschaft [passion] und über die individuellen Beziehungen zwischen den Menschen aus Fleisch und Blut erhebt, das ist also jene Verbindung zwischen der Vernunft, der allgemeinen Rationalität und der Maschine, der Maschinenhaftigkeit ihres Wirkens. Sämtliche Diskurse, die die Todesstrafe legitimieren, sind zunächst Diskurse der staatlichen Rationalität mit universellem Anspruch und universeller Struktur, das sind Theoreme des Staatsrechts, der Staatsmaschine. Im so definierten oder behaupteten rationalistischen Raum erklärt man, dass der von den Gegnern der Todesstrafe vorgebrachte Einwand oft der Versuchung unterliege, der maschinenhaften, vermittelten, technologisierten, mechanisierten kalten Vernunft eher polizeilichen und männlichen Anscheins das unmittelbare Gefühl, das Herz, die Affektivität eher weiblichen Anscheins gegenüberzustellen, den Schrecken, den die Grausamkeit der Vollstreckung beziehungsweise Hinrichtung [exécution] auslöst.
Wir werden sehen, dass das Motiv der Grausamkeit in diesem Dispositiv von Argumenten zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe eine wichtige Rolle spielen wird, in seiner Logik und in seiner Rhetorik, insbesondere, und zwar auf durchaus komplexe Weise, in den Vereinigten Staaten, so als ob weniger das Prinzip der Todesstrafe in Frage stünde als vielmehr die Grausamkeit ihrer Anwendung, so sehr, dass, wenn man ein Mittel fände, die Grausamkeit abzumildern, ja gar zum Verschwinden zu bringen (im doppelten Sinne des Wortes „verschwinden“ [disparaître]: im Sinne von annullieren oder im Sinne von unsichtbar, nicht-wahrnehmbar, nicht-phänomenal, nicht-erscheinend [non apparaissant] machen, „verbergen“), dass also, wenn man die Grausamkeit der Szene zum Verschwinden bringen könnte, die Todesstrafe, das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhalten werden könnte: Man bräuchte nur dafür zu sorgen, dass die Todesstrafe nicht wahrnehmbar, dass sie anästhesiert wird, es würde genügen, sowohl den Verurteilten als auch die Akteure und die Zuschauer zu anästhesieren. Diese anästhetische, anaisthetische oder anästhesiale1 Logik, die also das allgemeine philosophische Problem der Beziehungen zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft, dem Herzen und der Vernunft aufwirft (in seiner absolut unbegrenzten Verästelung, bis hinein in die raffiniertesten Zonen der philosophischen Problematik Kants oder Husserls bezüglich einer transzendentalen Ästhetik, einer Theorie der reinen Sinnlichkeit), diese anästhesiale Logik bestimmter Diskurse zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe begibt sich in Wirklichkeit – und sei es, um sich ihr scheinbar zu widersetzen – in die Axiomatik des Rechts auf die Todesstrafe hinein, das die Rationalität der Todesstrafe setzt oder voraussetzt. Diese anästhesiale Logik der Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe kann oft jener Logik in die Hände spielen, die das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhält. Wir werden das noch verifizieren. Das anästhesiale Argument bestreitet diese Rationalität nicht, es plädiert nur für eine weniger grausame, weniger schmerzhafte Umsetzung besagter Rationalität. Wir werden gleich oder vielleicht auch etwas später sehen, wozu die Entfaltung dieser anästhesialen Logik im nationalen oder internationalen Recht unserer Moderne führt. Sie bewirkt zum Beispiel, dass man in den Vereinigten Staaten Anhänger der Todesstrafe unter der Bedingung sein kann, dass diese mittels einer tödlichen Injektion und nicht mittels Gaskammer, Hängen oder Erschießen oder mit Hilfe des Elektrischen Stuhls verabreicht [administrée] wird. Das ist auch der Grund für neuerliche spektakuläre Inszenierungen im Kino, woraus sich heute ein ganzes Genre entwickelt, wie zum Beispiel bei jenem Film, der, wenn ich mich recht entsinne, den typischen Titel True Crime2 trägt, in dem ein Journalist zu sehen ist, der den Verdacht eines Justizirrtums hegt, der zu einem Todesurteil geführt habe, und welcher deshalb, nicht aus Gerechtigkeitsliebe, sondern aufgrund seiner Leidenschaft als Nachrichtenjournalist, eine minutiöse Gegenermittlung führt – die die gesamte Dauer des Films einnimmt, die der Film ist – und schließlich die Unschuld des Angeklagten, also den Justizirrtum beweisen kann, wobei er den Beweis just in der Sekunde zu erbringen vermag, da die Exekution bereits im Gange ist und das tödliche Gift bereits begonnen hat, in die Adern des Verurteilten, man könnte fast sagen des Patienten, eines bereits anästhesierten Verurteilten zu fließen; der Telefonanruf des Gouverneurs, der vom Journalisten aus dem Schlaf gerissen СКАЧАТЬ