Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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Je tiefer die Rührung sich versteht, desto mehr ist sie Übergang; ein Ende bedeutet sie niemals für den wahren Dichter. Eben das will es besagen, wenn die Erschütterung sich als ihr bestes Teil zeigt und dasselbe meint, obzwar in sonderbarer Beziehung, Goethe, wenn er in der Nachlese zur Poetik des Aristoteles sagt: »Wer nun auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen innern Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehn, daß Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen unbestimmten Zustande entgegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen leidenschaftlich eingenommen«. Übergang aber wird die Rührung aus der verworrenen Ahnung »auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen … Ausbildung« nur zu dem einzig objektiven Gegenstande der Erschütterung sein, zum Erhabenen. Eben dieser Übergang ist es, der im Untergang des Scheines sich vollzieht. Jener Schein, der in Ottiliens Schönheit sich darstellt, ist der untergehende. Denn es ist nicht so zu verstehen, als führe äußere Not und Gewalt den Untergang der Ottilie herauf, sondern in der Art ihres Scheins selbst liegt es begründet, daß er verlöschen muß, daß er es bald muß. Ein ganz anderer ist er als der triumphierende blendender Schönheit, der Lucianens ist oder Lucifers. Und während der Gestalt der Goetheschen Helena und der berühmteren der Mona Lisa aus dem Streit dieser beiden Arten des Scheins das Rätsel ihrer Herrlichkeit entstammt, ist die Ottiliens nur durchwaltet von dem einen Schein, der verlischt. In jede ihrer Regungen und Gesten hat der Dichter dies gelegt, um zuletzt, am düstersten und zartesten zugleich, in ihrem Tagebuche mehr und mehr das Dasein einer Schwindenden sie führen zu lassen. Also nicht der Schein der Schönheit schlechthin, der sich zwiefach erweist, ist in Ottilie erschienen, sondern allein jener eine ihr eigene vergehende. Aber freilich erschließt der die Einsicht im schönen Schein überhaupt und gibt erst darin sich selbst zu erkennen. Daher sieht jede Anschauung, die die Gestalt der Ottilie erfaßt, vor sich die alte Frage erstehen, ob Schönheit Schein sei.
Alles wesentlich Schöne ist stets und wesenhaft aber in unendlich verschiedenen Graden dem Schein verbunden. Ihre höchste Intensität erreicht diese Verbindung im manifest Lebendigen und zwar gerade hier deutlich polar in triumphierendem und verlöschendem Schein. Alles Lebendige nämlich ist, je höher sein Leben geartet desto mehr, dem Bereiche des wesentlich Schönen enthoben und in seiner Gestalt bekundet demnach dieses wesentlich Schöne sich am meisten als Schein. Schönes Leben, Wesentlich-Schönes und scheinhafte Schönheit, diese drei sind identisch. In diesem Sinne hängt gerade die Platonische Theorie des Schönen mit dem noch älteren Problem des Scheins darin zusammen, daß sie, nach dem Symposion, zunächst auf die leiblich lebendige Schönheit sich richtet. Wenn dennoch dieses Problem in der Platonischen Spekulation latent bleibt, so liegt es daran, daß dem Platon als Griechen die Schönheit mindestens ebenso wesentlich im Jüngling sich darstellt als im Mädchen, die Fülle des Lebens aber im Weiblichen größer ist als im Männlichen. Ein Moment des Scheins jedoch bleibt noch im Unlebendigsten erhalten, für den Fall, daß es wesentlich schön ist. Und dies ist der Fall aller Kunstwerke – unter ihnen am mindesten der Musik. Demnach bleibt in aller Schönheit der Kunst jener Schein, will sagen jenes Streifen und Grenzen ans Leben noch wohnen und sie ist ohne diesen nicht möglich. Nicht aber umfaßt derselbe ihr Wesen. Dieses weist vielmehr tiefer hinab auf dasjenige, was am Kunstwerk im Gegensatze zum Schein als das Ausdruckslose bezeichnet werden darf, außerhalb dieses Gegensatzes aber in der Kunst weder vorkommt, noch eindeutig benannt werden kann. Zum Schein nämlich steht das Ausdruckslose, wiewohl im Gegensatz, doch in derart notwendigem Verhältnis, daß eben das Schöne, ob auch selber nicht Schein, aufhört ein wesentlich Schönes zu sein, wenn der Schein von ihm schwindet. Denn dieser gehört ihm zu als die Hülle und als das Wesensgesetz der Schönheit zeigt sich somit, daß sie als solche nur im Verhüllten erscheint. Nicht also ist, wie banale Philosopheme lehren, die Schönheit selbst Schein. Vielmehr enthält die berühmte Formel, wie sie zuletzt in äußerster Verflachung Solger entwickelte, es sei Schönheit die sichtbar gewordene Wahrheit, die grundsätzlichste Entstellung dieses großen Gegenstandes. Auch hätte Simmel dies Theorem nicht so läßlich aus Goetheschen Sätzen, die sich dem Philosophen oft durch alles andere empfehlen als ihren Wortlaut, entnehmen dürfen. Diese Formel, die, da Wahrheit doch an sich nicht sichtbar ist und nur auf einem ihr nicht eigenen Zuge ihr Sichtbarwerden beruhen könnte, die Schönheit zu einem Schein macht, läuft zuletzt, ganz abgesehen von ihrem Mangel an Methodik und Vernunft, auf philosophisches Barbarentum hinaus. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn der Gedanke, es ließe sich die Wahrheit des Schönen enthüllen, in ihr genährt wird. Nicht Schein, nicht Hülle für ein anderes ist die Schönheit. Sie selbst ist nicht Erscheinung, sondern durchaus Wesen, ein solches freilich, welches wesenhaft sich selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt. Mag daher Schein sonst überall Trug sein – der schöne Schein ist СКАЧАТЬ