Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
isbn:
Im Gegensatz zu Millionen von Deutschen ahnte Ilse schon nach dem Fall von Stalingrad, dass der Krieg verloren war. Für den «Seespiegel» hatte sie das Geschehen intensiv verfolgt. Sie konnte BBC London unbehelligt hören, Ilse wusste darum, was an jeder Front geschah, auch wenn sie vom Elend selbst verschont blieb im kleinen Land der vielbelächelten Eidgenossen.
Aber Ilse wusste nicht, dass ihre Eltern sterben mussten, weil sie heimlich feindliche Sender gehört hatten und von Nachbarn verpetzt worden waren. Aus Rücksicht auf die gefallenen Söhne, die ihr Leben für Führer und Vaterland geopfert hatten, wurden die Eltern ohne Aufhebens und Schande einfach krank. Ilse war längst nachdenklich geworden.
Die Spannungen mit Wilhelms Brüdern liessen nach.
Zwischen 1939 und 1945 dienten alle drei während Wochen und Monaten in der Armee. Oft sah es so aus, als ob sich Wilhelm und Wolfgang in ihrer Arbeit in der kleinen Firma abwechselten. Allerdings wurde der ehrgeizige Offizier viel häufiger aufgeboten. Wolfgang hatte es schon vor dem Krieg zum Hauptmann der Infanterie gebracht – bei Kriegsende war er Oberst. Das machte dem Johann grossen Eindruck, auf Wolfgang hörte er, wenn es ihm wichtig schien.
Wilhelm war mit dem bescheidenen Winkel des Gefreiten zufrieden. Zu Ilses Leidwesen suchte er auch im Alltag keine grossen Rollen. Wilhelm sah sich vor allem als Meister «seiner» Druckerei. Andererseits, dachte Ilse hin und wieder, ein anderer Mann hätte sie vermutlich mehr eingeschränkt. Wilhelm war verlässlich, geduldig und irgendwie gütig. Und wenn sie schon daran dachte – Wilhelm war auch zärtlich.
Kurz nach Kriegsende heirateten Wilhelms Brüder. Es stand fest, dass der jüngere Traugott danach ins Welschland ziehen würde. Wolfgang wollte im Unternehmen bleiben und suchte eine Wohnung. Er hatte als Einziger der drei eine Matura gemacht, danach eine Handelsschule besucht und diese mit Diplom abgeschlossen. Wolfgang führte die Buchhaltung und besorgte den übrigen Papierkram – damit hatte er neben Johann den stärksten Einfluss auf das Geschehen im Geschäft.
Ilse und Pfarrer Grob konnten somit 1963 im Nachruf für Johann die schwierige Zeit von 1930 bis 1945 unkommentiert übergehen. Umso mehr zu schreiben und zu sagen gab es über Haus und Herd, denen Vater Johann vorstand, und die für ihn ein und alles gewesen waren. Festzuhalten war ebenso, welch tüchtige Söhne aus der Ehe mit seiner Hedwig hervorgegangen waren und wie wichtig deren Dienst fürs Vaterland in schwierigen Zeiten gewesen war. Zu Ehren kam auch Johann als Arbeitgeber. Bis zu seinem Tod war der Betrieb immer gewachsen – an die 20 Leute arbeiteten 1963 in der baulich schon längst erweiterten und modernisierten Druckerei.
Mit der Zeitung hatte es markante Auf- und Abwärtsbewegungen gegeben, aber das änderte am erfolgreichen Gesamtbild wenig. Ilse führte die Redaktion seit dem heissen Sommer 1947 allein verantwortlich. Ihr war längst gelungen, sich schlimmstenfalls als Opfer einer bösen Versuchung darzustellen.
Der Pfarrer litt seit dem Ende des Krieges unter Depressionen. Er war ehrlich entsetzt über die Gräuel der Nazi-Schergen im Krieg und in den Konzentrationslagern. Völlig unnötig beschuldigte er sich selbst auf der Kanzel seiner Blindheit. Damit verstörte er insbesondere einige seiner Kirchgänger und Vorgesetzten, denen Grobs braune Sympathien kaum aufgefallen waren.
Ilse war inzwischen längst vom faschistischen Wahn geheilt, sprach jetzt ein geradezu akzentfreies Schweizerdeutsch und hatte 1946 die Tochter Erna geboren. Die drei Kinder hatten Ilse nie ernsthaft in der Zeitungsarbeit behindert. Wenn immer nötig kümmerte sich ja die inzwischen 62-jährige Hedwig um die Kleinen – und jetzt auch um «Klein Erna».
Nach dem Krieg liess sich Ilse ausserdem von einer Haushalthilfe oder schulentlassenen Mädchen helfen. Jetzt hatte sie Zeit, sich voll dem «Seespiegel» zu widmen. Ilse sorgte für einen neuen Auftritt, beliess nur den Kopf des Blattes in der Jahrhunderte alten gotischen Schrift, wechselte hingegen in Titel und Text von der inzwischen obsolet gewordenen Fraktur zur modernen Times. Irgendwie kam ihr vor, als ob sie selbst erst jetzt – und mit ihr auch der «Seespiegel» – die letzten Spuren der furchtbaren Jahre deutscher Überheblichkeit abgelegt, abgestreift, ja abgestossen hätte. Erst jetzt war die Metamorphose vollendet. Sie reiste selbst für Abonnenten und Inserenten durchs Tal und rund um den See – meistens mit dem Rad oder per Velo, wie sie es neuerdings schweizerdeutsch nannte. Selbst ihr Schwager Wolfgang, der sich mit Ilse immer wieder angelegt hatte, begann sie zu respektieren.
Wilhelm leitete die Druckerei im Sinne seines Vaters Johann, der sich neben Ilse vor allem und noch immer der Zeitung widmete. Sein ältester Sohn machte sich allerdings nicht allzu viele Gedanken um die Zukunft des kleinen Unternehmens. Erst als Johann starb, wurde Wilhelm bewusst, was nun wirklich auf ihn zukam.
Wilhelm war damals schon 51, sein ältester Sohn Adolf 26, verheiratet, ausgezogen. Alex, 22, arbeitete im Betrieb, wurde Schriftsetzer und war dauernd daran sich weiterzubilden, vielleicht würde Alex einmal die Firma weiterführen. Aber Alex war schwierig, Wilhelm und Alex hatten häufig Streit. Erna dagegen hatte Talent und schaffte die Aufnahme an die Kunstgewerbeschule. Vielleicht würde sie einmal im Unternehmen den Kunden einen weiteren Dienst anbieten können.
Da war auch noch sein Bruder Wolfgang mit dem grossen Gehalt, das an der Substanz zehrte. Die Buchhaltung könnte man durchaus einem Treuhänder überlassen. Natürlich brauchte Wolfgang das Einkommen für seine Familie, wie Wilhelm ja auch. Aber Wolfgang war nicht produktiv und noch immer oft beim Militär. Was half es dem Betrieb, einen Oberst zu haben? Das brachte keine Aufträge. Eigentlich teilte Ilse Wilhelms Meinung. Aber sie mochte sich damit nicht auseinandersetzen. Das war nun wirklich Wilhelms Sache und die von Hedwig, ihrer Schwiegermutter, die selbst als inzwischen 79-Jährige, wenn es um ihre Söhne ging, noch immer grossen Einfluss hatte und ebenfalls, wenn auch recht bescheiden, aus dem Unternehmen lebte.
Eigentlich hatte Johann einen schrecklichen Tod erlitten. An der Sulzbachstrasse wurde die alte Schmiede der Amreins abgerissen. Sie musste dem grossen Neubau der Girom-Kette weichen. Der Amrein Joggi hatte dabei bestimmt ein gutes Geschäft gemacht. Die Bauarbeiter begannen, mit einer bisher im Dorf nie gesehenen riesigen Baumaschine, an deren stählernem Schwenkarm eine massige Kugel wie ein Pendel gegen die alten Mauern schlug, das noch immer ansehnliche Haus buchstäblich zu zertrümmern. Da wollte der noch immer ehrgeizige 83-jährige Johann über die alte Schmiede einen kleinen nostalgisch gestimmten Beitrag schreiben und ein Foto machen – beides Arbeiten, die er liebte und die er noch immer leicht zu bewältigen vermochte. Während er fotografierte, wurde er von einem Lastwagenfahrer, der Bauschutt abführte, übersehen und zu Tode gefahren.
Nun, Johanns Reportage vom Abriss der alten Schmiede war nicht allein beruflich oder aus Liebhaberei motiviert. Sein Tod beendete eine über Jahrzehnte zwar auf kleinem Feuer gehaltene, mehr oder weniger unausgesprochene, aber umso ausdauerndere Feindseligkeit zweier Sippen und Nachbarn in der Seeweite.
Die Pfisters und die Amreins waren sozusagen Rücken an Rücken Nachbarn. Der grosse Baumgarten des Jakob Amrein an der Rückseite der Schmiede grenzte an die Hinterseite von Johann Pfisters Grundstück. Schon Mitte der 20er Jahre hatte Johann den Amreins zur Vergrösserung der Druckerei ein Stück Land abkaufen wollen, doch der damals noch lebende alte Franz Amrein hatte kein Einsehen. Nein, da war kein Land zu haben, erklärte der Schmied stur. Das war nichts als feindseliger schlechter Wille. Davon war Johann überzeugt.
Als СКАЧАТЬ