Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann
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Название: Schwer behindert / leicht bekloppt

Автор: Bernd Mann

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 9783907301081

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СКАЧАТЬ erstes fahrbares Gefährt war improvisiert, im wahrsten Sinne aus der Not geboren; eine Matratze auf einem Brett, montiert auf einem hölzernen Leiterwagen, machte aus einem Spielgerät ein fahrbares Liegebett. Er war acht Jahre alt gewesen. Das Wägelchen ermöglichte ihm, von zu Hause aus Spaziergänge mit Begleitung zu unternehmen. Den Rollwagen hatte ihm sein Vater konstruiert. Als Christian noch sitzen konnte, befestigte er manchmal auch einfach einen Campingstuhl für seinen Sohn auf dem Leiterwagen. So konnte er im Garten des elterlichen Hauses bewegt werden. Er war leicht zu transportieren. Ein hageres Jüngelchen, bei dem man die Rippen zählen konnte, auf einem ebenso zerbrechlich wirkenden Stühlchen mit einer dünnen, rot-weiß gestreiften Polsterauflage.

      Als seine Behinderung zur dauerhaften und sich ausweitenden Erkrankung zu werden drohte, brachte man ihn im Frühjahr 1982 zur Untersuchung nach Heidelberg. Dort wurde er in die Pädiatrie – das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg – aufgenommen. Man gab ihm einen Rollator, wie ihn ältere, gehbehinderte Menschen bekommen. In Heidelberg blieb er bis Juli 1983. Nach Hause kam er nicht mehr. Sein Zuhause, wie er es kannte, existierte nicht mehr. Anfang 1983 hatten sich die Eltern getrennt.

      Sofort nach seinem Aufenthalt in der Heidelberger Pädiatrie, brachte man Christian in den nördlichen Schwarzwald nach Baiersbronn. Den ganzen Sommer, den Herbst und fast den ganzen Winter verbrachte er im Osterhof, einem psychotherapeutisch heilpädagogischen Kinderheim. Der Osterhof verstand sich seit seiner Gründung als „Brücke zur Familie“. Ziel der Therapie in dieser Einrichtung war die Reintegration der Kinder in den Familienkreis. Christians Familie war aber zerbrochen.

      Von Januar bis September 1984 wohnte er gemeinsam mit der Mutter bei den Großeltern. Dort lebte er seinen Alltag, ohne den Vater oft zu sehen. In der Wohnung robbte er auf den Knien. Außerhalb der Wohnung bewegten ihn Großeltern und Mutter in einem Rollstuhl, den er in Baiersbronn bekommen hatte, der aber nur für kurze Strecken geeignet war; zu kippelig, zu unsicher für seine starken Bewegungsstörungen.

      Im Oktober 1984 erfolgte seine Aufnahme in die Pädiatrie des Klinikums Karlsruhe. Der Rollstuhl war sein ständiger, aber unliebsamer Begleiter geworden. Damit rollte er jetzt von Krise zu Krise. Während des vergangenen halben Jahres hätten sich nach den Einschätzungen und Vorstellungen seiner Therapeuten seine Bewegungsstörungen verbessern sollen. Das Gegenteil war der Fall. Die Trennung der Eltern, der „Verlust“ des Vaters, die wechselnden Lebenssituationen, die Aussichtslosigkeit auf eine Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation, gleich gar die zerschlagene Hoffnung auf ein normales Leben, all das hatte seine Seele belastet und eine latente Depressionen verstärkt. Sein Körper reagierte mit starken Verkrampfungen. In seinem Rollstuhl sitzend gab er das Bild eines Spastikers ab, der gegen seine krampfartigen Muskelspannungen ankämpfte. Ein aussichtsloser Kampf ungleicher Gegner.

      In der pädiatrischen Abteilung des Klinikums Karlsruhe war Christian inzwischen zu einem Problemfall geworden, der bereits eine Reihe von Medizinern beschäftigt hatte, ohne, dass für den Hauptleidtragenden eine befriedigende Lösung hatte herbeigeführt werden können. In Karlsruhe diagnostizierten die behandelnden Ärzte eine schwere Form der Torsionsdystonie, die sich durch reflexartige, unkontrollierte Bewegungen zeigte. Aus verschiedenen Arztberichten war dem medizinischen Personal bekannt, dass der Beginn von Christians Erkrankung im Dezember 1981 mit einer Ehekrise der Eltern einhergegangen war. Das gesamte Krankheitsbild war deshalb bisher in Verbindung mit der familiären Problematik der Eltern gebracht und deshalb als psychische Erkrankung betrachtet worden. Man behandelte ihn also wie einen „Geistesgestörten“, in dem Glauben, man habe es mit einem psychischen Defekt zu tun, der sich in einer Torsionsdystonie zeigte. Um seine heftigen Bewegungsstörungen einzudämmen, griff man zu einem drastischen Mittel: Man gipste ihn von der Hüfte abwärts ein. Im Gips scheuerte er sich wund. Die Folge: ein Druckgeschwür, eine Blutvergiftung und eine infektiöse Entzündung des Knochenmarks. Die Infektion hätte für ihn böse enden können. Dass sie glimpflich ausging, war einfach Glück. Ende 1985 verließ Christian die Klinik in Karlsruhe. Zwar hatte er auch diese medizinische Tortur überstanden, aber er war mehr denn je an Körper und Seele krank.

      Anfang 1986 kam er auf die Hauptschule nach Langensteinbach. Die Eltern hofften, dass der Schulbesuch etwas Normalität in sein völlig unnormales Leben bringen könnte. Die Schule in Karlsbad-Langensteinbach war ein Ausbildungsort für Körperbehinderte. Der Ort lag nur fünfzehn Autominuten von Karlsruhe entfernt. Als Christian dort hinkam, hatte er immer noch den Rollstuhl aus seiner Zeit in Baiersbronn. Dieser bekam eine gepolsterte Sitzschale, die das Sitzen verbessern und ihm so die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollte. In seinem rollenden Spezialstuhl saß er Kopf und Oberkörper zur Seite gedreht, halb nach hinten hängend und die Beine nach vorne wegstreckend. Der Unterricht fand in Kleingruppen mit acht oder neun Schülern statt und begann um 8 Uhr morgens. Ein Fahrdienst holte ihn zu Hause ab. In der Schule bekam er ein Mittagessen. Nach dem Unterricht stand Krankengymnastik auf dem Tagesplan. Nachmittags gegen 15 Uhr wurde er wieder nach Hause transportiert, wo er gegen halb vier ankam. Er wohnte weiterhin bei der Mutter. Alle vierzehn Tage verbrachte er die Wochenenden bei seinem Vater. Mal hier, mal dort – für ihn war es immer ein unstetes Hin und Her und ein emotionales Achterbahnfahren gewesen.

      1989, im dritten und letzten Schuljahr, konnte er kaum noch am Unterricht teilnehmen. Seine Unruhe hatte wieder zugenommen. Er war fast nicht mehr aufnahmefähig. Regelmäßig brauchte er Diazepam. Er bettelte sogar darum, weil es ihm so furchtbar schlecht ging. Diazepam ist ein Psychopharmakon zur Behandlung von Angstzuständen und epileptischen Anfällen, das auch als Schlafmittel angewendet wird. Nicht immer hat er es bekommen.

      In seinem Gutachten schreibt Christians Kinderarzt an einen Kollegen: (…) Meine Beobachtungen von Christian in der Schule gehen dahin, daß in allen Stress- oder Spannungssituationen, auch in Unterrichtsstunden, in denen Christians geistige Kapazität gefordert wird, die extreme hypertone choreoathetotische Symptomatik zunimmt, bis zur völligen Unkontrollierbarkeit durch ihn selbst. In Situationen, in denen jedoch Christian emotional in Ruhephasen oder in lustigen, blödelnden Situationen, z.B. eine Kissenschlacht mit der Krankengymnastin, wird er entweder völlig entspannt oder reagiert körperlich so erstaunlich koordiniert, daß die Krankengymnastin oder ich selbst völlig erstaunt sind. Auch treten dann immer wieder völlig paradoxe Bewegungsreaktionen auf, z.B. wenn ich ihn auffordere, ein Kissen zwischen die Beine zu klemmen, damit seine hyperabduzierten Beine bzw. Knie nicht so stark aneinander reiben, kann es sein, daß er mit plötzlicher Abduktion, d.h. totaler Entspannung der Adduktoren reagiert.

       Von seiten der Mutter fällt mir auf, daß sie immer wieder betont, mit keinerlei Erwartungen zu Ärzten oder Psychotherapeuten zu gehen, auf der anderen Seite aber immer wieder äußert, daß sie sich erhofft, daß sich Christians Beschwerden wieder normalisieren. (…)

      Was Christian in Langesteinbach sehr gefiel, war ein Teich mit Molchen und anderen Wassertieren, die er dort entdeckt hatte. Oft beobachtete er auch Vögel, die er vom Fenster des Klassenzimmers aus sehen konnte. Regelmäßig kamen eine Bachstelze und ein Hausrotschwanz.

      Während seiner Zeit in Langensteinbach wurde Christian viermal von seinen Eltern zur Untersuchung ins Zentrum für Kinderheilkunde des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt gebracht und dort dem Leiter der Abteilung für Pädiatrische Neurologie, Prof. Dr. med. G. Jacobi, vorgestellt: September 1987, November 1988, Oktober 1989 und Januar 1990. Nach jeder Untersuchung wurde ein Bericht verfasst; im vorletzten schilderte Professor Jacobi den Zustand Christians mit deutlich spürbarer Betroffenheit:

       (…) Mir wurde der Junge erstmals am 22.9.87 ambulant vorgestellt, und zwar von beiden Eltern. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt abgemagert, fast das gesamte Unterhautfettgewebe war geschwunden, allerdings waren die Muskeln bedingt durch die ständigen Hyperkinesen eher hypertrophiert. Von der Beschreibung her stellte sich die Hyperkinese als Mischbild zwischen einer torsionsdystonen und choreoathetotischen Bewegungsunruhe dar, die choreatischen Bewegungen traten bei Anspannung und im Affekt deutlicher hervor, während bei intendierten Bewegungen, wie die Hand geben oder auf ein Ziel deuten, СКАЧАТЬ