Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann
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Название: Schwer behindert / leicht bekloppt

Автор: Bernd Mann

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 9783907301081

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СКАЧАТЬ unmöglich wurde. Wie sich die unkontrollierten Bewegungen über die Beine auf seine ganzen Gliedmaßen ausweiteten. Wie sein Rücken nach hinten zog, wie ein dauerhaftes Hohlkreuz an seinem noch kindlichen Körper zerrte, sodass an ein aufrechtes Sitzen nicht mehr zu denken war. Wie er verzweifelnd, weinend versuchte, die Veränderungen zu verstehen. Wie er nach nur wenigen Wochen fast sämtliche Kontrolle über seinen Körper verloren hatte. Wie die Ärzte keine Erklärung fanden und nur herumexperimentierten. Wie ein Arzt ihn von der Hüfte abwärts eingipste, in der Hoffnung, dass sich Christians Beine nicht mehr unkontrolliert bewegen würden. Wie Christians Gliedmaßen im Gips weiter die Bewegung suchten und er sich aufscheuerte, was eine Infektion zur Folge hatte. Wie andere Ärzte eine psychologische Ursache unterstellten und er seine Eltern nur noch sehen durfte, wenn er sich das durch bestimmte Übungen verdient hatte; etwa wenn er es geschafft hatte, sich selbst die Zähne zu putzen oder ohne fremde Hilfe etwas zu essen. Je nach Schwierigkeitsgrad bekam er dafür mehr oder weniger Punkte. Die gesammelten Punkte konnte er für Kinobesuche einlösen oder für die Teilnahme an Gruppenveranstaltungen oder für Besuche der Eltern. Immer wollte er zu den Eltern, immer wollte er nach Hause. Er spielte dieses perfide Spiel mit. Fühlte sich unter Druck gesetzt, weil er keine Wahl hatte. Es machte ihn wütend. Ich las, wie er litt. Wie er die körperlichen und psychischen Qualen jahrelang nur unter stärksten Medikamenten ertrug. Wie Valium sein dauerhafter Begleiter wurde. Wie er mit unbändigem Willen gegen die Krankheit ankämpfte und versuchte, ihr glückliche Momente abzutrotzen.

      Von seiner Krankheit hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Schon einmal hatte ich auf der Straße Menschen im Rollstuhl gesehen, die auffallend unkontrollierte Körperbewegungen machten, Fehlbewegungen. Die etwa urplötzlich den Kopf nach hinten warfen oder den Oberkörper nach vorne schleuderten. Manchmal schien es, als hätten sie den Kopf zur Seite gelegt, etwa so, als würden sie ein Bild in einem Museum genauer betrachten wollen. In Wirklichkeit konnten sie diese Bewegungen gar nicht beeinflussen. Christians Krankheit hatte seinen ganzen Körper im Griff. Er hatte die Kontrolle über seine Bewegungen verloren; Symptome einer generalisierten Dystonie. Um eine plötzliche Fehlbewegung zu verhindern, durch die er sich hätte verletzen können, oder einfach, um überhaupt zur Ruhe zu kommen, bekam er Psychopharmaka, wie man sie auch Parkinson-Patienten gegen starkes Zittern gibt. Von diesen krampflösenden und muskelentspannenden Präparaten war er abhängig. Ohne diese Medikation ging gar nichts.

      Die ersten Anzeichen seiner Krankheit zeigten sich bei ihm im Alter von sechs Jahren. Als eine beginnende generalisierte Dystonie wurden seine Symptome zunächst noch nicht erkannt. Zuerst war sein rechter Fuß davon betroffen. Fast unbemerkt begann dieser zu „spinnen“. Christians Eltern dachten wohl, es sei eine Sache, die vorüberginge. Zwei Monate später fing der linke Fuß an. Schuhe konnte Christian bald nicht mehr tragen. Jetzt begann der rechte Fuß nach innen zu ziehen. Das machte das Auftreten schwierig. Dann bekam er Probleme, überhaupt Schritte zu machen, weil sich die Beine nicht mehr nach vorne bewegen ließen. Es ging weiter, bis die Krankheit von seinem Körper so weit Besitz genommen hatte, dass er gar nicht mehr laufen und später auch nicht mehr sitzen konnte. Er konnte den Oberkörper nicht mehr aufrechthalten, die Arm- und Handfunktionen waren gestört. Geistig verlief seine Entwicklung wie bei jedem normalen Kind, doch viele, die ihn nicht kannten, dachten, er sei geistesgestört. Grund dafür war sein ungewöhnliches Verhalten, waren seine krampfartigen Gesten, seine plötzlichen Bewegungen, die ohne jeden erkennbaren Sinn abliefen, seine Muskelverkrampfungen, die den Kopf nach hinten oder den Oberkörper nach vorne zogen. Er erzählte mir das alles bei meinen Besuchen. Nach und nach. Er erzählte von dem Tag im Dezember 1981, als alles mit dem einen Fuß angefangen hatte, vom Klinikaufenthalt in Heidelberg im darauffolgenden Februar und wie er dort in der Klinik auf dem Boden lag und sich unkontrolliert bewegte. An die drei Monate dazwischen hatte er keine Erinnerung mehr.

      (…) Alle bekannte Literatur beschreibt das Zustandekommen eines solchen Krankheitsbildes sehr schleichend über Monate und Jahre und nicht binnen weniger Wochen. (…) So formulierte es sein Kinderarzt Anfang 1989 in einem Schreiben an einen Kollegen, bei dem er um fachlichen Rat gebeten hatte.

      Dass es sich bei seiner Krankheit um eine spezielle Funktionsstörung im Gehirn handelte, die sich negativ auf seine Bewegungsabläufe, aber nicht auf seine Intelligenz und damit auch nicht auf seine Denkleistung auswirkte, musste auch ich erst verstehen. Er war geistig vollkommen normal, aber gefangen in einem Körper, der ihm jegliche Kontrolle entzogen hatte.

      Seit Februar ’90 lebte er in der Maulbronner Kinderklinik. Zum Zeitpunkt seiner Einlieferung war er aufgrund seiner körperlichen Probleme sehr depressiv gewesen. Sein Zustand hatte sich zuvor sehr verschlechtert, sodass es ihm nicht mehr möglich gewesen war, den Unterricht an der Schule für Körperbehinderte in Langensteinbach zu besuchen.

      In Maulbronn hatte man zunächst die schon Ende 1989 begonnene Behandlung gegen die Störungen der Muskelspannung fortgesetzt. Daneben hatten täglich psychotherapeutische Gespräche und krankengymnastische Übungsbehandlungen stattgefunden. Ein weiterer Behandlungsversuch mit einer Kombination von Timonil, einem Medikament zur Behandlung von epileptischen Anfallserkrankungen, und Orap, einem Neuroleptikum zur Behandlung spezieller psychischer Erkrankungen, sowie abendlichen Gaben des Schlafmittels Diazepam musste wegen zunehmender Bewegungsstörungen nach einigen Wochen abgebrochen werden. Ab Mitte Mai 1990 hatte sich Christians Zustand unter einer kombinierten Behandlung von Akineton (gegen Bewegungsstörungen), Timonil (zur Behandlung von epileptischen Anfallserkrankungen) und Frisium (beruhigendes und angstlösendes Medikament) erheblich verbessert, die bizarren Bewegungen nahmen deutlich ab, seine Stimmungslage verbesserte sich, auch das Interesse an sozialen Kontakten nahm zu.

      Jetzt im Herbst, nach umfangreicher Behandlungsprozedur, ging es ihm schon wieder besser. Er konnte in Bauchlage Bücher lesen und seinen Kassettenrecorder selbstständig bedienen, führte leichte Werkarbeiten aus und beteiligte sich an Spielen am Tisch. Soweit es ihm möglich war, half er auch in seiner Stationsgruppe mit und wischte nach dem Essen den Gruppentisch ab. Mit seinem einfachen Bauchlieger-Selbstfahrer hatte er gelernt, sich über kurze Strecken fortzubewegen. Schwierig war für ihn noch das Sitzen. Er schaffte es zwar, aus der Bauchlage in den Fersensitz hochzukommen, aber langes Sitzen in dieser Position strengte ihn sehr an. Dass er den Kassettenrecorder wieder bedienen konnte, war sein größtes Glück.

       3. Kapitel

      Ich war selbst überrascht, wie viel Spaß mir die Arbeit mit den Kindern im KIZE machte. Aber nicht nur die Arbeit war befriedigend für mich, auch der Ort war außergewöhnlich. Mit meinen Augen, aber auch mit meinem Herzen sah ich vor mir außerhalb der alltäglichen Welt eine besondere. Die Lage der Klinik, oben am Waldrand mit Blick über die kleine Stadt, verstärkte zudem mein Empfinden, dass hier etwas Besonderes vor sich ging und ich daran teilhaben durfte. Vor etwa drei Monaten war ich der Kinderstation zugeteilt worden. Offiziell war ich einer der Zivildienstleistenden des Betreuungspersonals der Gruppe 2 der Kinderstation, die wie alle Kindergruppen im ersten Obergeschoss untergebracht war. In meiner Gruppe waren die Kinder mittleren Alters; die jüngsten zählten gerade mal fünf Jahre, die älteren zwölf. Ich war für die Grundversorgung der Kinder zuständig: waschen, baden, Essen servieren oder füttern und abends gemeinsam mit ihnen spielen. Während der Woche hatten die Kinder den ganzen Tag Programm und waren somit durchgehend beschäftigt. Es gab Lehrer, Psychologen, Logopäden, Beschäftigungs- und Ergotherapeuten sowie Physiotherapeuten. Fast alle hatten irgendwelche Therapiestunden, oder sie besuchten den hauseigenen Unterricht. Daher arbeiteten wir nach einem geteilten Dienstplan. Der Arbeitstag wurde von einer vierstündigen Pause zwischen Mittag und Nachmittag unterbrochen. Am Wochenende aber waren wir Zivis umso gefragter. Dann waren wir die Programmgestalter.

      Manchmal nahm ich mir ganz kurz Zeit und sah von hier oben im ersten Stock des KIZE aus einem der Fenster auf die kleine, feine Stadt Maulbronn unten im Tal, mit den Häusern und den roten Dächern, mit dem mächtigen Klosterbau und dem Tiefen See, mit dem Wald und den Weinbergen drumherum, und mich durchfuhr ein Gefühl des Glücks. Ich war froh, nun meinen Platz gefunden СКАЧАТЬ