Название: Schwer behindert / leicht bekloppt
Автор: Bernd Mann
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783907301081
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Denken Sie einfach mal darüber nach, wie oft Sie das Wort „verrückt“ in den Mund nehmen. „Verrückt“ ist ein Begriff, der sich in unseren ganz normalen Sprachgebrauch eingezeckt hat. Man könnte verrückt darüber werden, wie oft uns das Wort über die Lippen geht. Wir benutzen es dermaßen häufig, dass es schon wieder normal ist, „verrückt“ zu sagen. Und den großen Rest bestimmen sowieso die Mediziner. Wenn die einen erst einmal für verrückt erklärt haben … Im schlimmsten Falle stecken sie ihn in die Klappse. Der Psychologe David Rosenhan sagt: „Es ist wesentlich leichter, in eine Psychiatrie hineinzukommen als heraus – auch wenn man freiwillig dort ist.“
Gott sei Dank bin ich völlig normal, und das Ganze geht mich eigentlich gar nichts an. Nun ja, vielleicht bin ich ein bisschen verrückt oder vielleicht auch etwas Ähnliches. Jedenfalls werden Sie mich, wenn ich Ihnen meine Geschichte erzähle, wahrscheinlich für verrückt halten. Oder Sie werden ein anderes Eigenschaftswort oder eine Umschreibung finden, um mein Handeln zu erklären: Der ist doch plemplem, dumm, dämlich, doof, umnachtet, wirr, überspannt, absonderlich, geistesgestört, nicht ganz bei Trost, behämmert, sonderbar, debil, närrisch, schwachsinnig, crazy, unzurechnungsfähig, irrsinnig, geisteskrank, idiotisch, verschroben, schrullig, zurückgeblieben, toll, verdreht, übergeschnappt, verwirrt, verstört, nicht ganz gescheit, nicht bei Verstand, nicht richtig im Kopf, ballaballa. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich würde sagen, „leicht bekloppt“ passt am besten zu mir. „Bekloppt“ ist salopp, und salopp ist okay. Denn salopp ist für mich ein Ausdruck einer gewissen Nichtachtung gesellschaftlicher Normen. Und genau das habe ich getan. Ich habe etwas getan, was unter normalen Umständen so gut wie niemand tut. Jedenfalls nicht sein halbes Leben lang.
Übrigens: In die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, müssten Sie eigentlich mit dem Rollstuhl hineinfahren. Also bitte, nehmen Sie Platz. Sie zögern? Ach, keine Angst. Sie können ja jederzeit wieder aufstehen, wenn es Ihnen nicht mehr behagt.
1. Kapitel
Nichts deutete darauf hin, dass ein Opel Kadett und ein Schweineanhänger eines Tages eine unfreiwillige Verbindung eingehen und mit an einer Geschichte schreiben würden. Der Kadett war mein allererstes Auto. Der Anhänger eigentlich im Ruhestand. Früher hatte ihn mein Vater, der ein kleines Haus mit Scheune, Stall und etwas Grund im alten Weinort Horrheim besaß, für Transporte benutzt und damit regelmäßig eines seiner Schweine zum Schlachter befördert. Bis zum Beginn der Geschichte hatte ich um den Anhänger immer einen großen Bogen gemacht. Jetzt sah ich ihn direkt vor mir, und sein Schweinegestank stank mir, wie mir das ganze Leben auf dem Dorf stank, auf dem Land stank. Nein, auf dem Land sah ich meine Zukunft damals nicht. In meinem Kadett schon. Jedenfalls meine nähere Zukunft.
Mein Name ist übrigens Bernd Mann. Sie können aber gerne Bernd zu mir sagen. Der andere Mensch, um den es in diesem Buch geht, heißt Christian. Christian ist schwerbehindert. Die Christian-Bernd-Geschichte, um die es in diesem Buch geht, hat keinen genauen Anfang. Ich kann heute nicht mehr sagen, dann und dann hat alles angefangen, denn die Christian-Bernd-Geschichte hat viele Anfänge und viele Geschichten. Ich greife diese Anfangsgeschichte heraus, weil sie mit meinem alten Opel Kadett und einem noch älteren Schweineanhänger beginnt und beide eine emotionale Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen haben.
Der Kadett war orange und hatte vier Türen. Ein Kadett mit dieser Farbe war Ende der 1980er Jahre nichts Besonderes, ein Kadett mit vier Türen schon. Zuerst war mir das peinlich. Die Viertürenvariante war in meinen Augen doch eher etwas für Familien oder Rentner. Vier Türen waren praktisch, aber interessiert das einen Achtzehnjährigen? „Der oder keiner“, sagte mein Vater. Und so wurde es der, denn das war eindeutig besser als keiner: Opel Kadett D, 60 PS, Baujahr 1984, 59.000 Kilometer gelaufen, vier Türen, Farbe: Saft-Orange. Mit seinen vier Türen und dazu noch einer Anhängerkupplung war der zwar keine Liebe auf den allerersten Blick, aber das änderte sich von einer Sekunde auf die nächste, als ich ihn in Besitz nahm. Es war eines jener Allererstenmale, die man nie vergisst. Ich saß das erste Mal auf den schwarzgrauen Polstern hinter dem Lenkrad, und es fühlte sich an wie der erste Kuss oder die erste Zigarette. „Wow!“, dachte ich. Vor allem, weil in der Mittelkonsole eine glänzend silberne Stereoanlage mit Kassettendeck und Verstärker eingebaut worden war. Das war eindeutig etwas für einen Achtzehnjährigen. Okay, man musste für den Kaltstart auch noch einen Choke ziehen, aber wichtig war, dass ich ihn bisher in guten Händen wusste. Der Kadett gehörte dem Bruder eines Freundes. Der Bruder des Freundes war vier Jahre älter und wollte den Wagen genau zu dem Zeitpunkt verkaufen, als mein 18. Geburtstag bevorstand. Das war am 18. April 1988. 4.500 Mark sollte er kosten. Eine Stange Geld. Einen Teil verdiente ich mir im Weinberg. Den größeren Batzen bekam ich von meinen Eltern. Mein Vater hatte einen kleinen Acker verkauft.
Wenn ich heute an meinen Kadett denke, überkommt mich ein Gefühl von totaler Freiheit. Denn wie jedes Kind war ich jahrelang mit meinen Eltern im Auto unterwegs gewesen, bis ich dann eines Tages ein eigenes hatte. Mit achtzehn Jahren machte ich den Führerschein. Denn mit Achtzehn will man Auto fahren können. Zum Erwachsenwerden gehörte das für mich dazu: Volljährigkeit, Führerschein, Auto – für mich war das völlig normal. Wenig später stand der Kadett vor unserer Haustüre und ich daneben mit dem Lappen in der Tasche. Er hatte ein elegantes Fließheck und Alufelgen, die schon etwas ramponiert waren, was mich aber nicht störte. Ich war trotzdem unglaublich stolz. Einsteigen, Motor starten und überall hinfahren können. Welt, ich komme! Klar, mein Kadett war ein Gebrauchter, aber ich konnte mich auf ihn verlassen. Liegengeblieben sind wir eigentlich nie. Und die unzähligen selbstausgeführten Reparaturen schweißten uns nur noch mehr zusammen. Es war eine herrliche, unbeschwerte und auch ereignisreiche Zeit. Zuerst war Vaihingen an der Enz unser tägliches Ziel, da ich dort bis ’89 eine kaufmännische Lehre bei der Württembergischen Eisenbahngesellschaft machte. Danach steuerten wir ein Jahr lang Bietigheim-Bissingen an, wo ich Anfang ’90 im Berufskolleg die Fachhochschulreife ablegte. Schließlich fuhren wir fast täglich an den Ort, an dem ich meinen Zivildienst abzuleisten hatte: Maulbronn. Wir waren unzertrennlich geworden. Diese innige Beziehungszeit zwischen meinem Kadett und mir war auch die Zeit, in der ich Christian kennenlernte.
An einem außergewöhnlich schönen Oktobertag 1990 fuhr ich von Horrheim nach Maulbronn, um ihn abzuholen. Ich lebte damals noch bei meinen Eltern, er im Kinderzentrum Maulbronn, einer Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie mit einem angeschlossenen, ambulanten sozialpädiatrischen Zentrum. Ich war seit Sommer einer der Betreuer, die im KIZE ihren Zivildienst leisteten. Eigentlich wäre für mich heute ein freier Tag gewesen. Aber gerade deshalb hatte ich Zeit, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Und heute wollte ich Christian abholen. In das Kassettendeck meiner glänzend silbernen Stereoanlage hatte ich Bowie gesteckt, als ich die Ortsausfahrt von Horrheim erreichte und auf die Landstraße bog, tönte sein „Heroes“ aus den Boxen. Verstärkt durch den Verstärker der glänzend silbernen Stereoanlage schmetterte Bowie seinen Text in die Welt. Er sang von zwei Menschen, die Helden sein konnten – für immer und ewig oder auch nur für einen Tag. Und ich sang, nein, ich brüllte mit. So fuhr ich, getragen von Heldengesang, die Landstraße entlang, die mich Richtung Maulbronn führte, fuhr durch ein Panorama, das von der herbstlich gestimmten Natur in ein unnatürliches Orange getaucht worden war. Die Straße unter mir folgte der sanften Hügeligkeit der Landschaft. Ich ritt auf einer Welle. Hinten hatte ich zwar den ungeliebten Schweineanhänger am Haken, aber mein Gemüt hatte eine orangerote Brille aufgesetzt. Egal in welche Richtung ich schaute – nach vorne, was ich meistens tat, СКАЧАТЬ