Название: Schwer behindert / leicht bekloppt
Автор: Bernd Mann
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783907301081
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2. Kapitel
Jenseits der Türe glaubte ich Stimmen zu hören und hielt einen Augenblick inne. Ich klopfte erneut, zögerte aber, die Klinke zu drücken. Ich legte meinen Kopf an das Türblatt und lauschte. Was an mein Ohr drang, waren Stimmen, aber sie waren keinesfalls menschlicher Natur. Die Laute nahmen rasch an Deutlichkeit zu, als ich die Türe einen Spalt weit öffnete. Vorsichtig trat ich ein. Christian lag ausgestreckt auf seinem Bett. Er hatte die Augen geschlossen. Seitlich sah ich die schweren Sandsäcke liegen, die seinen Körper auf der Fläche stabilisierten. Auf dem Tisch, der neben seinem Bett stand, fiel mir als Erstes der schwarze Kassettenrecorder auf. Neben dem Recorder lagen Kassetten und Hüllen: „Der Vogelstimmen-Trainer“, „Der Garten erwacht“ und „208 deutsche Vogelstimmen – von Amsel bis Zwergtaucher“. Er hatte mich immer noch nicht wahrgenommen. Erst als ich neben ihm stand und am Lautstärkeknopf drehte, öffnete er die Augen und brachte ein „Kuckuck“ hervor.
„Ja, Kuckuck. Hallo, Christian!“
„Nein, Bernd, ein Kuckuck.“
„Ja, weiß ich, den hätte ich wohl auch erkannt. Kuckuck, ruft‘s aus dem Wald …“, sagte ich, und dabei griff er nach meiner Hand.
„Cuculus canorus. Kuckuck. Gehört zur Ordnung der Kuckucksvögel und zur Familie der Kuckucke“, ergänzte er. „Kommt in Nordafrika über Westeuropa bis Sibirien und im äußersten Osten Asiens vor.“
„Gut, Christian, was du alles weißt.“
„Ist ungefähr so groß wie eine Taube, und sein Gefieder ist größtenteils grau.“ Er lag ungewöhnlich regungslos da. Wahrscheinlich hatte man ihm etwas zur Beruhigung gegeben. Nur seine Hand hielt mich weiter in ihrem eisernen Griff.
„Weißt du das alles von den Kassetten?“
Er nickte.
„Der Kuckuck legt seine Eier in fremde Nester, wusstest du das?“
„Und brütet nicht selbst.“
„Toll! Und der Kassettenrecorder ist auch neu, was?“
„Papa …“
„Aha.“
„Jetzt kann ich lernen, welche Vogelstimme ich höre. Und Vögel sammeln.“
„Wie jetzt? Und was machst du damit?“
„Nein, Bernd.“ Er lachte. „Beobachten und aufschreiben; die Vögel, die ich sehe. Birdwatching.“
„Du beobachtest Vögel?“
„Es gibt in Deutschland über zweihundert Singvögel und viele Greife, Eulen, Falken und auch viele Wasservögel.“
„Und was hast du davon?“
„Macht Spaß. Im Frühling kommen auch noch viele Zugvögel aus Afrika, Spanien, Portugal, Frankreich.“
„Und das nennst du sammeln?“
„Und im Herbst viele Vögel aus Nordeuropa, zum Überwintern; aus Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark und Island.“
„Wie Briefmarken sammeln.“
Mit einer Bewegung der Linken machte er mir klar, dass er davon nicht viel hielt. Erneut schloss er die Augen.
„Nach Nordafrika“, sagte er, ohne den Satz zu beenden. „Skandinavien wäre auch toll.“
„Zum Birdwatching meinst Du?“
Er nickte.
„Meinst du das?“
„Was sonst?“
„Klar, was soll man in Afrika oder Schweden auch anderes machen.“ Ich löste mich kurz aus seinem Klammergriff, rückte einen Stuhl heran und setzte mich ganz nah an sein Bett. Sofort nahm er meine Hand, zog an meinem Arm und klemmte ihn fest unter seine rechte Achsel. Es war erst das zweite oder dritte Mal, dass ich ihn außerhalb meines Dienstes besuchte. Es war Mitte September. Die Bäume vor seinem Fenster verloren ihr Grün. Seit Juli gehörte ich zu einer Handvoll Zivis im Haus. Jeder hatte eine Gruppe von Kindern, die er betreute. Christian war nicht in meiner Gruppe. Er war mit Abstand das älteste aller Kinder im KIZE. Mit seinen fünfzehn Jahren fühlte er sich mehr zu uns hingezogen. Mit den Kleineren und Kleinsten hatte er schlicht nichts am Hut, und weil er sich einsam fühlte, suchte er unsere Gesellschaft.
Was Einsamkeit bedeutete, wie es sich anfühlte, als habe das Leben einen zurückgelassen, konnte ich schmerzlich nachvollziehen. Ich hatte zwei Schwestern. Beide starben einen frühen Tod. 1972 war Helene mit neunzehn Jahren an einer Bauchfellentzündung gestorben. Nach geplatztem Blinddarm war sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ein ganzes Jahr lang musste sie leiden, bis sie den Kampf verlor. Ich war zwei Jahre alt und noch zu klein, um den Verlust zu realisieren. 1984 kam meine Schwester Else gemeinsam mit ihrem Freund bei einem Autounfall ums Leben. Es war kurz vor Weihnachten geschehen. Das erste Glatteis im Jahr. Es war ein Trauma für die ganze Familie. Ich war vierzehn. Elses Tod war ein großer Schock für mich. Sie war gerade mal neunundzwanzig Jahre alt geworden – und sie war für mich mehr als nur meine große Schwester gewesen. Nun war ich Einzelkind, und der Verlust machte mich auch zum Einzelgänger. Zuerst versuchte ich zu verdrängen: Alkohol, Feiern, alles Mögliche. Trotzdem hatte ich kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Drei Jahre ging das so. In diesem Zeitraum machte ich meine Lehre, die ich aber unwichtig fand. Meine Schwestern hatten eine Lücke hinterlassen, in der ich mich selbst zu verlieren drohte. Ich lernte mit dem Schmerz zu leben, aber die Lücke blieb. Ich wusste nichts mit meinem Leben anzufangen und entschied, noch einmal die Schulbank zu drücken. Um etwas Sinnvolles zu tun, beschloss ich, meine Fachhochschulreife nachzuholen.
Das Jahr am Berufskolleg in Bietigheim-Bissingen ging schnell zu Ende, fast zu schnell. Denn auch nach diesem Jahr hatte ich immer noch keine Vorstellung von meiner Zukunft entwickelt. Die Frage „Wo willst du hin?“ stand nach wie vor mahnend im Raum. Über eine zufällige Bekanntschaft erfuhr ich, dass Maulbronn Zivis suchen würde. Das war es also? Von hinten drängte die Frage nach der eigenen Zukunft. Von vorne zog das Rufen irgendeiner imaginären Stimme meine Aufmerksamkeit auf sich. Dem Drängen nachgebend und dem Ruf folgend, setzte ich mich mit der Pflegeleitung in Verbindung. Sie wollten mich eine Zeit lang beobachten und sehen, wie ich mich in der Praxis anstellen würde. Am Ende befand die Leitung, ich sei qualifiziert. So wurde ich Zivi. Ich war zwanzig Jahre alt. Ein junger Mensch, der keinerlei Erfahrung mit Behinderten oder deren Pflege hatte. Anfänglich war es sehr anstrengend für mich, aber auch schnell sehr befriedigend. Über meine Arbeit fand ich wieder zu mir selbst. Ich sah wieder einen Sinn im Leben. Auch, weil ich noch nie zuvor solches Leid gesehen hatte: verhaltensauffällige Kinder. Kranke Kinder. Überforderte oder unwillige Eltern. Kinder mit schweren Behinderungen, entweder angeboren oder durch Krankheit oder Unfall verursacht.
Dann las ich Christians Akte. Ich war schockiert. Sein jahrelanger Leidensweg durch die Kliniken war lückenlos dokumentiert. Ich las, dass alles in seinem siebten Lebensjahr begonnen hatte. Ich stellte mir vor, wie СКАЧАТЬ