Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann
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Название: Schwer behindert / leicht bekloppt

Автор: Bernd Mann

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 9783907301081

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СКАЧАТЬ 12. Januar 1990 verfasste er den vierten und letzten Bericht:

      (…) ich habe mir heute nochmals den Jungen angesehen und ein langes Gespräch mit beiden Eltern und dem Buben selber geführt.

      Ich hatte Christian zuletzt im Nov. 88 (nach den vorliegenden Berichten tatsächlich Okt. 89) gesehen und war, ehrlich gesagt, sehr betroffen über die ausgeprägte Verschlechterung seines Zustandes: Allein die Hautveränderungen geben beredten Ausdruck der ständigen Hyperkinesen: Die gesamte Stirn, die Kinnpartie, beide Ellenbogenseiten dorsal, die Kniegelenke, aber auch der gesamte Handrücken und die Handinnenfläche sind hyperkeratotisch verändert und bräunlich pigmentiert. Dazu kommen oberflächliche Exkoriationen, die Handinnenfläche schilfert teils fein-, teils grobschilfrig ab. An der Nasenwurzel hat er eine Druckstelle, die durch den untergelegten Zeigefinger in Ruhe oder im Schlaf resultiert. Vielleicht etwas durch die Autofahrt provoziert und die besonderen Umstände der Vorstellung bewegte der Junge sich spontan und unkontrolliert auf einer 2 x 2 m großen Unterfläche bis weit über deren Rand hinaus. Etwa 10 Minuten nach Gabe einer 10 mg Diazepam-Rect. war er dann ruhig, konnte ganz klar sprechen, war aber, wenn man ihn ansprach, wieder, wie er selbst sagte, voll innerer Spannung. Ohne einen solchen medikamentösen Kunstgriff sind seine Sehnen vor allem im Bereich der Kniekehle, der Ferse, aber auch Bicepssehnen und der gesamte Erector trunci derartig verspannt, dass man die einzelnen Gelenke kaum aus den eingenommenen Stellungen passiv bewegen kann. Beeindruckend ist weiter das oberflächliche Venengeflecht an den Armen, wie man es sonst nur von manuellen Schwerstarbeitern zu sehen gewohnt ist. Der Junge ist immer warm, wie die Eltern sagen, seine Haut optimal durchblutet, das Unterhautfettgewebe fehlt fast völlig, wenn er essen kann, ißt er wohl sehr viel, auch sehr kalorienreich. Trotzdem hat er in den 1½ Jahren nur 2,3 kg zugenommen: Er wiegt jetzt 28,5 kg (…), seine Körperlänge beträgt ungefähr 143 cm (…).

      Neu waren mir an dem Beschwerdebild auch seine Klagen über sein ständiges “Kribbeln im Kopf“, ein schmerzhaftes Kribbeln und ausstrahlende Schmerzen am Scheitel der funktionellen rechtskonvexen Skoliose in Höhe des IV. BWD, und weiter die Angaben über Pelzigkeit der drei äußeren Finger der linken Hand.

      Wenn ich es richtig verstanden habe, so kreisen die Gedanken des Jungen häufig um sein Ende: Daß er sich durch seine Muskelspasmen einen Bandscheibenprolaps holt, der zu einer Querschnittslähmung führt, oder zu einem Atemstillstand. Auch hat er wohl selbst die Vorstellungen, daß durch die Spasmen sein Gehirn in irgendeiner Weise „zerreißen“ könnte. Man gewinnt bei diesen Angaben den Eindruck einer latenten Suizidalität. Ihnen (gemeint ist der Kinderarzt Christians) und seinen Eltern gegenüber soll er ja wohl auch schon direkte Selbstmordgedanken und -absichten geäußert haben, was verständlich ist. Jedenfalls ist er sich bewußt, daß sein Leiden ihm selber zur unerträglichen Last geworden ist (…). Es war mir sehr wertvoll zu wissen, dass inzwischen sowohl Frau Eschenbach, die Leiterin des C.G. Jung-Instituts in Stuttgart, als auch Herr Müller-Küppers, der Heidelberger Ordinarius für Kinderpsychiatrie, eine Psychogenität des gesamten Krankheitsbildes ablehnen. Daß psychogene Überlagerungsmechanismen bei einem solch schweren organischen Krankheitsbild entstehen, kann gar nicht ausbleiben.

      Mitte Januar 1990 verließ Christian die Schule in Langesteinbach wieder. Er wurde ausgeschult, wie es offiziell hieß, da er nicht mehr sitzen und wegen ständiger Schmerzen und lautem Klagen, dem Unterricht nicht mehr folgen konnte. Auch war ein angemessener Transport zur Schule und wieder nach Hause fast unmöglich geworden. Sein Zustand hatte sich sehr deutlich verschlechtert. Möglicherweise hatte er auf die Schulsituation mit Stress reagiert. Stress tat ihm nicht gut. Vielleicht hatte es auch einen Gewöhnungseffekt bei den Medikamenten gegeben. Vielleicht kam aber auch eines zum anderen. Unabhängig von den Medikamenten, unabhängig von stressigen Situationen, sogar wenn eigentlich alles ruhig war, keine Veränderungen stattfanden, gab es immer wieder diese Schübe bei ihm. Selbst wenn es ihm gut ging, sich dann aber eine Kleinigkeit veränderte, reagierte er oft mit sofortiger Panik. Das hat ihn selbst am meisten verzweifeln lassen.

      Wegen seiner gravierenden Beschwerden nahm ihn die Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie im Februar 1990 im Kinderzentrum Maulbronn (KIZE) stationär auf. Dort sollten weitere medikamentöse, krankengymnastische und eventuell psychotherapeutische Behandlungsansätze entwickelt werden.

      Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme lebte er noch bei seiner Mutter, der man Anfang 1983, nach der Scheidung von Christians Vater, das Sorgerecht zugesprochen hatte. Bei seinem Aufnahmegespräch sagte er, dass er inzwischen lieber bei seinem Vater leben wolle, zu dem eine sehr enge Bindung bestand. Der Vater hatte bereits eine Sorgerechtsänderung beantragt, der auch das Familiengericht Karlsruhe zustimmte.

      Bei seiner Aufnahme im KIZE war Christian 14½ Jahre alt. Bei einer Körpergröße von inzwischen 150 cm wog er knapp 30 kg. Er war sehr schmächtig. Seine Bewusstseinslage wurde als „klar“ definiert, er sei allseits orientiert, Aufmerksamkeit und Konzentration seien jedoch reduziert. Man bescheinigte ihm eine durchschnittliche Intelligenz. Seine Stimmungslage schätzte man subdepressiv bis depressiv ein.

      Nach einem Jahr in Maulbronn zog der leitende Arzt des KIZE folgendes Fazit: (…) Der anfangs angesichts seiner körperlichen Schwierigkeiten sehr depressive Junge hat inzwischen wieder sehr viel mehr Zuversicht hinsichtlich seiner persönlichen Weiterentwicklung gewinnen können, er hat sich im Bereich der Selbstversorgung durchaus verbessern können, im motorischen Bereich wurden z. T. beträchtliche Fortschritte erzielt. (…)

       (…) Christian erhält in der Schule für Kranke wöchentlich etwa 12 Std. Unterricht, überwiegend in Form von Kleingruppen- oder Einzelarbeit. In den ersten Monaten war wegen häufiger Schmerzen und erheblicher Bewegungsunruhe ein sinnvoller Unterricht kaum möglich, sodaß der Schwerpunkt in einer umfassenden Standortbestimmung seiner Leistungen lag. Erst ab Mitte ’90 konnte Christian mit deutlicher Verminderung der Bewegungsunruhe größere Ausdauer und höhere Belastung entwickeln und im Unterricht mehr gefordert werden. (…) intellektuell könnte er mehr zu Stande bringen, wenn nicht seine motorischen Schwierigkeiten deutliche Grenzen setzen würden. Wir erwarten jedoch in den nächsten Wochen mit einer sicheren Handhabung seines Bauchliegerwagens auch hier noch deutliche Verbesserung, sodaß wir uns eine Fortführung der Betreuung in Ihrer Einrichtung (gemeint ist das Rehabilitationszentrum in Neckargemünd) ab Sommer d. J. gut vorstellen können. (…)

      Christians erste fahrbare Liege bekam er in Maulbronn. Es war eine Zwitterlösung. Sie bestand aus einem normalen Rollstuhl als Unterbau. Darauf hatte man ein gepolstertes Brett montiert. Seitlich waren Absturzsicherungen mit Öffnungen für die Arme befestigt worden. Ebenfalls gepolstert. Vorne konnte er den Kopf auflegen. Ein Bauchlieger-Wagen. Der Rollstuhl unter seinem Liegebrett war ein Standardrollstuhl, wie er als Transport- oder Schieberollstuhl in Kliniken und Behinderteneinrichtungen oder als Hilfsmittel bei kurzzeitig eingeschränkter Mobilität, etwa durch einen Beinbruch, eingesetzt wird. Es war ein sogenannter Selbstfahrer, was bedeutete, dass eine selbstständige Fortbewegung nur mittels Armkraft des Fahrers möglich war – bei 20 Kilo Rollstuhlgewicht plus Fahrergewicht, eine sehr kraftraubende Angelegenheit. Für eine dauerhafte Nutzung war der Standardrollstuhl als „Fahrwerk“ wirklich nicht geeignet. Es sei denn, sein Fortbeweger trainierte für die nächste Weltmeisterschaft im Armdrücken. Mit anderen Worten: Christian brauchte fast immer eine Person, die ihn schob.

      Christians zweiter Bauchlieger-Wagen war im Vergleich zum ersten schon fast ein High-Tech-Modell. Der leitende Arzt des KIZE bezeichnete das Gefährt als Bauchfahrer-Liege. Sie war eigens für Christian angefertigt worden und verfügte über einen, von ihm über einen Joystick zu bedienenden Batterieantrieb. Bald konnte er sich mit dem Gefährt gut ohne fremde Hilfe fortbewegen. Der Motor wurde an die Räder geklappt und trieb sie an. Der elektrische Antrieb war ein erheblicher Freiheitsgewinn für Christian. Er war nun in der Lage, selbst fahren zu können. Meist war es aber so, dass die Person, die ihn begleitete, den Rollstuhl bediente.

      Wie schnell die Elektronik auf Bewegungen des Joysticks ansprach, ließ sich einstellen. СКАЧАТЬ