Название: Schöne Tage 1914
Автор: Gerhard Jelinek
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783902862754
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Wien ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts die siebtgrößte Stadt der Welt. Die sozialen und nationalen Konflikte werden in diesem Schmelztiegel hochgekocht. Nach dem charismatischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der von politisch weit links kommend eine ebenso tatkräftige wie populistische und – wenn es opportun war – auch antisemitische Politik unter dem Beifall der Massen gestaltet hatte, stürzten die regierenden Christlichsozialen nach dem Tod des »schönen Karl« in eine schwere Parteikrise. Lueger hatte als unumschränkter Stadtkaiser Parteistrukturen und Parteiprogrammatik vernachlässigt. Er als Person war Programm genug. Lueger hatte die Reichs- und Residenzstadt durch die Phase stürmischen Wachstums und der Veränderung geführt und visionär gestaltet. Als Anwalt des gewerblichen Mittelstands hatte sich Karl Lueger eine satte Mehrheit gesichert. Wahlberechtigt waren freilich nur jene Wiener, die eine Mindeststeuerleistung erbrachten. Breite Schichten der wachsenden Arbeiterschaft konnten so nicht am politischen Prozess teilnehmen.
Mit dem Magistratsbeamten Richard Weiskirchner amtierte nach Lueger ein wenig charismatischer Politiker im neugotischen Wiener Rathaus. Das Zentralorgan der Sozialdemokratie, die Arbeiter-Zeitung charakterisierte den politischen Gegner fast schon resignierend: »Er ist von einem nüchternen Ernst, einer ledernen Sachlichkeit, die den kleinen Mann von Wien kalt lassen, wenn nicht gar abstoßen.«
Dennoch gelang es Bürgermeister Weiskirchner die christlichsoziale Partei in Wien zu stabilisieren. Beim zweiten Parteitag am Dreikönigstag des Jahres 1914 entwickelte der Lueger-Nachfolger Visionen für die kommenden Jahrzehnte. So kündigte Weiskirchner den Bau von »Untergrundbahnen« an, die mit internationalen Krediten finanziert werden sollte. Auch das Thema »Zentralbahnhof« beschäftigte vor gut hundert Jahren schon die Politik. Der Bürgermeister wollte eine »nördliche und südliche Hauptbahnhofgruppe unter Belassung eines großzügig ausgebauten Westbahnhofs als Alternative für einen in Wien unmöglichen Zentralbahnhof« bauen lassen.
In der Hauptstadt der Habsburgermonarchie leben 1914 rund 2,2 Millionen Menschen. In den Jahrzehnten zuvor hat die Stadt eine unglaubliche Zuwanderung zu bewältigen. Die meisten Häuser der sogenannten »Gründerzeit« werden zwischen 1880 und 1914 errichtet. Sie bilden noch heute das Rückgrat der Versorgung Wiens mit Wohnraum. Obwohl damals seriell und nach rein kommerziellen Kriterien gebaut, prägen die Mietshäuser von damals das Stadtbild von heute.19
25. Jänner 1914 »Das Beispiel eines bescheidenen und unauffälligen Lebens zu geben und Schaustellungen von Luxus zu vermeiden«
Der New Yorker Stahlindustrielle und Milliardär Andrew Carnegie spricht über die Pflichten des Reichtums, und die Wiener Neue Freie Presse berichtet über die Aufnahme seines Credos auf einem sogenannten Kinetophon. Alvar Edison hat sich diesen Apparat, der erstmals synchronisierte Film- und Tonaufnahmen ermöglicht, patentieren lassen. Der reichste Mann der Welt ließ sich zu dieser Aufnahme überreden und posierte in New York für Edison und seine Maschine. Der Sohn eines bitterarmen schottischen Webers hatte es in Amerika zu unvorstellbarem Reichtum gebracht, seine Dollars aber auch in zahlreiche philanthropische Projekte investiert. Carnegie hielt für den Tonfilm-Aufnahmeapparat eine kurze Rede über die Pflicht des Reichtums: »Dieses halte ich für die Pflicht des Reichen: Erstens das Beispiel eines bescheidenen und unauffälligen Lebens zu geben und Schaustellungen von Luxus zu vermeiden. Zweitens für die berechtigten Ansprüche derer zu sorgen, die von ihm abhängen. Drittens die überflüssigen Einkünfte lediglich als anvertrautes Gut zu betrachten, das er nach bestem Wissen und Gewissen so verwalten und anwenden muß, daß seinem Vaterlande daraus der größtmögliche Nutzen erwächst.«
Diese philanthropischen Ansichten des amerikanischen Milliardärs bleiben von der Neuen Freien Presse unkommentiert. Aus gutem Grund. Am Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Wien durchaus als »Stadt der Millionäre« gelten. Wiens reichster Mann um 1910 war unzweifelhaft Baron Albert Salomon Anselm von Rothschild. Er konnte sich durchaus mit dem Amerikaner Andrew Carnegie vergleichen. Wie der Linzer Wirtschaftswissenschafter Roman Sandgruber vorrechnet, versteuerte der Bankier und Industrielle Rothschild mehr, als die gesamte Hofhaltung des Habsburgischen Herrscherhauses inklusive aller Apanagen und Extravaganzen kostete. Sein Sohn Louis Nathaniel von Rothschild, der 1911 nach dem Tod seines Vaters die Geschäfte übernommen hatte, war kaum weniger reich. Er kontrollierte die Creditanstalt und damit weite Zweige der österreichischen Industrie. Er versteuerte ein größeres Einkommen als die knapp hundert Millionäre aus altem Adel zusammen und galt als reichster Mann Europas. Reichtum wurde nicht verschämt gelebt, sondern offen zur Schau gestellt. Die drei Palais der Rothschilds in der damaligen Heugasse auf der Wieden gegenüber dem Schloss Belvedere, in der heutigen Theresianumgasse und der Plößlgasse, manifestierten den Anspruch des jüdischen Geldadels, auf Augenhöhe mit dem alten Geburtsadel zu leben. Viele Maler, Schriftsteller und Opernstars lebten gut vom Mäzenatentum der Millionäre. Gustav Klimt zählte zu den reichsten Wienern. Arthur Schnitzler, Sigmund Freud, Gustav Mahler konnten als wohlhabend gelten.
Dabei gab es große soziale Gegensätze und Spannungen. Viele ungelernte Arbeiter verdienten kaum 1200 Kronen pro Jahr. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag immer noch bei 60 Stunden. Der Wiener Statistiker Gerhart Bruckmann konnte das krasse Ungleichgewicht der Einkommensverteilung mit einer Namensliste der 929 höchsten Steuerzahler Wiens und Niederösterreichs im Jahr 1910 belegen. Zu den Reichsten der Zwei-Millionen-Stadt zählten das Kaiserhaus, hohe Adelige, Bankleute, Großhändler, Industrielle und ein paar Künstler, einige Witwen und reiche Erbinnen sowie ein (aristokratischer) Kardinal. Die Reichen sind fast immer Männer und zu 60 Prozent jüdisch, zu 10 Prozent aus altem Erbadel. Geld allein sichert aber noch keine gesellschaftliche Anerkennung. Baron Rothschild – immerhin – wird bei der Hofgesellschaft zugelassen, einen Händedruck des Kaisers kann sich der reichste Mann Europas aber nicht kaufen.20
25. Jänner 1914 »Das rücksichtslose Gebaren vieler Kutscher ist eine schwere Sorge für die Chauffeure«
In Wien streiken die Drucker schon seit fast zwei Monaten. Sie fordern höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Die Allgemeine Sport-Zeitung, eine »Wochenschrift für alle Sportzweige«, kann nur in einer Notausgabe erscheinen. Immerhin wird dem geneigten Publikum das Jahresprogramm des »Jockey-Clubs« präsentiert. Aktuelle Sportergebnisse müssen ausgeblendet bleiben, weil offenbar nicht nur die Drucker, sondern auch die Setzer streiken. Dafür beschäftigt sich Victor Silberer, Herausgeber des Buches Die Wiener Autonummern 1914 (zum Preis von 3 Kronen in »hochelegantem Sporteinband« erhältlich) mit den Unsitten auf Wiens Straßen. Das Verhältnis zwischen den vielen Kutschen und den (noch) wenigen Automobilen dürfte damals ähnlich freundschaftlich gewesen sein wie heute das Zusammenleben von Autos und Fahrrädern. Die Kutscher scheren sich einen Rossknödel um die geltende Straßenverkehrsordnung: »Wie beim Umkehren benehmen sich viele der Herren Rosselenker auch beim Einbiegen in eine rechtsseitige Straße. Sie geben auch da keinerlei Signale, weder den von vorne auf sie zukommenden Wagen, noch dem von rückwärts herannahenden Wagen, das fällt ihnen gar nicht ein.« Herr Silberer steht auf Seiten der Moderne und das ist in diesen Tagen das Automobil. »Ein solches Fahren ist aber nicht nur eine arge Störung eines geregelten Straßenverkehrs, sondern auch in jedem einzelnen Falle eine große Gefährdung des schnellen Wagens und seiner Insassen. Das rücksichtslose Gebaren vieler Kutscher ist eine schwere Sorge für die Chauffeure und die ihnen anvertrauten Wagen und Passagiere.«
Vorrang für den Nummernadel: Das Verzeichnis aller Wiener Autobesitzer für 1914. Das Kennzeichen mit der Nummer »A 4« schmückt den Wagen von Thronfolger Franz Ferdinand. Wiens reichster Mann, Baron Alfons Rothschild, fährt mit dem Kennzeichen »A 56«.
Aus dieser – wahrscheinlich zu Recht – geschriebenen Anklage gegen die Kutscher, denen ja der Ruf eines eher groben Umgangs nachhing, entnimmt der Leser eine weitere wichtige Information. Vornehme Menschen und Funktionen werden mit französischen Namen beschrieben. СКАЧАТЬ