Название: Die große Gauklerin
Автор: Brachvogel Carry
Издательство: Public Domain
Жанр: Зарубежная классика
isbn:
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Offenbar rechnete er irgend etwas aus, denn er hielt immer wieder im Schreiben an, klemmte den Bleistift zwischen die Zähne und sah mit einer Falte über der Nasenwurzel starr in die Ferne, wie jemand tut, der sein Gehirn zu straffer Arbeit zwingt. Ettore sah ihn und lächelte ein wenig spöttisch. Er rief ihn an:
»Carlo, wohin in solcher Eile?«
Der andere hob den Kopf, lüftete ein wenig den Hut, schien aber von der Begegnung mit dem schönen Vetter nicht gerade hocherfreut. Er gab kurz zurück:
»Zu einer Unterredung bei Grimaldi. Es ist höchste Zeit. Ich bin schon um zehn Minuten zu spät daran!«
Ettore lachte und rief: »Zehn Minuten zu spät, entsetzlich! Die Welt wird untergehen, wenn Grimaldi ganze zehn Minuten auf Dich warten muß!«
Carlo lachte gezwungen, entgegnete aber nichts. Seine Gondel war auch schon zu dreiviertel vorüber. Ettore rief ihm noch nach:
»Kommst Du nicht einmal auf den Lido hinüber?«
»Ich glaube kaum, vielleicht fahre ich schon in den nächsten Tagen nach Rom, es kann sein, daß ich ins Ministerium muß!«
Damit war Carlo Priuli um die Ecke des kleinen Kanals verschwunden, und auch Ettore sprang jetzt in seine Gondel. Elisabeth hatte die kleine Szene ohne besonderes Interesse beobachtet, wurde erst aufmerksam, als der Gondoliere ihr flüsternd die Namen der beiden Herren nannte. Sie fand Carlos Erscheinung, im Gegensatz zu seinem Vetter, wenig anziehend, seine Art zu sprechen und sich zu geben trocken und unfreundlich, und doch mußte sie in späteren Tagen oft an diese kleine Begebenheit zurückdenken, an die Begegnung der beiden Männer, an die Worte, die sie im Vorüberfahren wechselten, und immer war's ihr dann, als wäre diese Begegnung nicht nur ein zufälliges Zusammentreffen gewesen, sondern ein Symbol, an dem sie achtlos vorübergegangen war und das doch für ihr ganzes Leben tiefe Bedeutung gewinnen sollte …
Die Gondolieri Ettores stießen von der Treppe ab. Er warf noch einen Blick auf Elisabeth zurück, glitt mit der Hand langsam, zärtlich über die dunkle Rose in seinem Knopfloch, als streichelte er eine Mädchenwange. Elisabeth sah das Spiel seiner Finger und erbebte; sie wollte eine jähe Bewegung machen, sich zum Gehen wenden oder irgend etwas tun, was keinen Sinn hatte, da war aber die Gondel mit dem jungen Mann schon dahingeglitten und bog eben in einer wundervoll scharfen Kurve um die Ecke zum Canal Grande.
Auch die Schöttlings fuhren nach Hause. Sie wußten, daß nach der ›Dogaressa‹ jeder andere Kunsteindruck schwach bleiben mußte. Sie hatten also beschlossen, den Kirchenbesuch, der noch geplant war, auf ein andermal zu verschieben, und sie ließen sich jetzt planlos ein wenig in Seitenkanälen umherfahren. Sie sprachen nicht viel, sondern schauten und sannen, wie in Venedig schaut und sinnt, wer dieser Stadt sein Herz geöffnet hat. Einmal, da der Gondoliere für eine kurze Strecke in den Canal Grande zurückgekehrt war, sahen sie aus dem Palazzo Morosini Menschen herauskommen, elegante Frauen in hellen Mänteln und wehenden Schleiern mit vornehmen Herren und reichgekleideten Kindern. Da fragte Elisabeth aus ihren Gedanken heraus:
»Kannst Du Dir eigentlich vorstellen, wie man in diesen Palästen lebt?«
Der Oberst lächelte.
»Ich denke, sehr angenehm, wenn auch nicht ganz so komfortabel wie in einem deutschen Palast. Aber alle Leute machen ja nicht die Ansprüche Ottos.«
Elisabeth schüttelte den Kopf.
»Nein, so hab' ich es nicht gemeint. Ich möchte wissen, wie die Menschen in solchen Häusern wohnen, in denen sie immerfort von einer großen Tradition, von großen Erinnerungen umstellt sind! Ich denke, man muß sich eigentlich vorkommen, als ob man an eine Kette gebunden wäre, so daß man so leben muß oder wenigstens versucht so zu leben, wie alle die getan haben, durch deren Hände die Kette läuft. Ich denke mir, man hat da gar nie den Mut, man selbst zu sein, man versucht wohl immer unwillkürlich, ob man sich in den Stil oder in die Tradition einpaßt. Ich denke mir das traurig und beklemmend.«
Der Oberst sah auf die Menschen zurück, die eben aus dem Palazzo Morosini getreten waren und jetzt lachend und scherzend eine Gondel bestiegen.
»Das denkst Du Dir bloß aus! Schau' Dir die Menschen da an, ob sie beklemmt aussehen oder man ihnen zutraut, daß sie sich einer Tradition einfügen wollen. Es sind alles Italiener, vergiß das nicht! Sie wurzeln fester im Leben als wir, und die Vergangenheit hat über sie keine Macht –«
Elisabeth entgegnen nichts mehr. Ihre Gedanken gingen schon auf anderen Wegen. Sie liefen zurück zum Palazzo Priuli und zu dem Mann, der in der Rose ihre Wange gestreichelt hatte. Voll verwirrender Süße stürmten sie auf das Mädchen ein, bis ihr Gesicht nicht mehr verklärt aussah, wie an den Tagen vorher, sondern ernst und bewegt, so daß ihr Vater einmal fragte: »Liesel, an was denkst Du?«
»Ich denke an die ›Dogaressa‹,« entgegnete sie und log nicht einmal, da sie's sagte. Ja, sie dachte an das Bild, an den Palast, aber auch noch an den, in dem das Blut alter Herrscher floß. Er, sein Haus, sein Bild, seine Stadt gingen ineinander über, daß sie nicht mehr genau unterscheiden konnte, woran ihr Denken hing, daß sie nur eine Sehnsucht empfand, die sie zu gleicher Zeit erschreckte und beglückte, eine Sehnsucht, die die Arme weit ausbreitete, um etwas zu empfangen, dessen Namen sie noch nicht kannte oder sich noch nicht zu nennen traute. An diesem Tag und an andern, die ihm folgten, spürte Elisabeth erst wieder, daß sie jung und daß das Leben ihr noch alles schuldig geblieben war. Im Harm um ihre erste Liebe, in den kleinlichen Sorgen, durch die sie Jahr um СКАЧАТЬ