Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
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Название: Der Pferdestricker

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750219397

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СКАЧАТЬ kleine Mädchen aus den unteren Klassen verspürten so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie warfen sich nämlich vor, dass sie noch am letzten Schultag vor den Osterferien ihrer Lateinlehrerin zum Abschied nachgerufen hatten: Ilse, Ilse, keiner will’se.

      Natürlich nur leise, so dass die das nicht gehört hatte.

      Laut hätten sie sich nie getraut.

      Prolog 4

      21.6.2006

      Es gab Leute, die behaupteten, Uli Kubitzki sei nicht nur schwul, der Typ habe das Schwulsein erfunden. Und besagter Uli Kubitzki nahm solche Bemerkungen nicht nur nicht übel, sondern empfand sie fast schon wie eine Art Belobigung für eine Art von Lebensführung, zu der es für ihn niemals eine wirkliche Alternative gegeben hatte. Das Wort tuntig empfand er somit auch keineswegs als Beleidigung seines Auftretens, sondern als völlig adäquate Bezeichnung dafür.

      Sein Arbeitgeber, die Innenstadtfiliale einer großen Bank, sah das alles nicht ganz so locker. Mehrfach hatten Kunden nachgefragt, was denn das für ein komischer Vogel sei, der sie da bedient hatte. Niemand war dabei diskriminierend oder böse geworden; alle hatten sie lediglich über irgendein exaltiertes Verhalten des Bankangestellten lachen müssen, und dann war Uli Kubitzki aus der Kundenbetreuung zur Aktenverwaltung in ein Hinterzimmer versetzt worden. Da Uli Kubitzki zudem aus Wuppertal kam, hatte sein Auftreten in einschlägigen Kreisen schon längst zu einer Art Kosenamen geführt: Ulla de Wuppertal. Und bereits nach wenigen Wochen hatte dieser Name für ihn selber den Status eines Spitznamens oder Pseudonyms verloren: er nannte sich ganz einfach nur noch so.

      Auf möglichst ausgedehnten Kontakt mit den einschlägigen Kreisen legte Ulla den allergrößten Wert. Obschon er nicht schlecht verdiente, war seine Behausung eher bescheiden und die Einrichtung mit dem Wort spartanisch noch wohlwollend beschrieben. Er konnte zwar auch im Internet stundenlang seinen Wünschen und Träumen nachhängen, aber wirklich interessant war eine virtuelle Welt für ihn nicht; dort konnte man den Appetit anregen, gegessen wurde woanders. Er brauchte ganz einfach den direkten Zugang zur Realität, und deshalb ging ein großer Teil seines Gehaltes drauf für zumeist mehr als extravagante Kleidung, für Püderchen. Kremchen und Düftchen und die fast täglichen Besuche irgendwelcher Schwulenkneipen in allen möglichen Städten des Ruhrgebiets, in Düsseldorf oder in Köln. Eine Zeit lang hatte er allen Ernstes geglaubt, irgendwann einmal seine finanzielle Situation verbessern zu können durch die Herausgabe eines Schwulenführers durch den Großraum Rhein-Ruhr oder die Erstellung einer solchen Website im Internet; aber davon war er inzwischen wieder abgekommen, weil er ehrlicherweise in der Einleitung schon hätte schreiben müssen, dass ein Besuch dieser Etablissements sich fast nie lohnte: Man konnte hinfahren, wohin man wollte, man traf immer die gleichen Leute mit immer den gleichen Wünschen, Träumen und zynischen Abwehrmechanismen, und die wenigen Typen, deretwegen man sich eigentlich auf die Suche gemacht hatte, bekam man ohnehin nicht.

      Und er machte sich fast jeden Abend auf, um einen Mann zu finden, auf dessen Typ ihm die unzähligen Websites im Internet jeden Tag mehr Appetit machten. Als Tunte konnte er natürlich nichts gegen Tunten haben, aber sexuell interessierten die ihn überhaupt nicht. Er liebte die maximale Differenz, die richtigen Kerle, die tough guys. Nur schien bei denen die Nachfrage nach Tunten äußerst begrenzt. Lediglich ein paar türkische Kerle hatten ihm bei seinen regelmäßigen Cruisings auf dem Kölner Hauptbahnhof schon mal gezeigt, wo der Hammer hing. Aber da war immer der fade Nachgeschmack gewesen, dass die Kerle aus Gründen, die wohl mit ihrer Kultur zusammenhingen, notgeil gewesen waren, sich mit ihm einen Spaß erlaubt hatten und die gleiche Übung auch an sonst was praktiziert hätten, wenn es nur lebendig war, man es degradieren und sich daran als Mann beweisen konnte. Er war zwar ein Paradiesvogel, auch hatte er aus reiner Wissbegierde schon einige Male Websites zum Thema bestiality besucht, aber diesbezüglich war der Lustgewinn jedes Mal ein sehr überschaubarer gewesen. Für die Gestaltung des eigenen Liebeslebens kam so etwas eher nicht in Frage. Weder als Täter noch als Opfer.

      Und dann hatte sich von einer Sekunde auf die andere alles geändert. Er wäre alles geworden, Ziege, Esel, Huhn oder auch nur ein Stück blutige Schweineleber mit einem Schlitz drin, einfach alles, nur um in die Nähe dieses Kerls zu kommen.

      Es war an einem Freitagabend in Dortmund gewesen. Dort war ein echter Kerl gewesen, bei dem ihm augenblicklich eines aufgefallen war: Der hatte endlich mal nicht sofort weggeschaut, sondern hatte zunächst sekunden-, wenig später sogar minutenlang seinem inquisitorischen Blick standgehalten. Sie waren schließlich ins Gespräch gekommen und wenig später hatte er den Kerl sogar mit in seine spartanisch eingerichtete Behausung in Wuppertal genommen. Es war spät am Abend gewesen und dennoch hatte er plötzlich eine riesige Lust verspürt, seine gesamte ihm gegenüber oft sehr reserviert auftretende Nachbarschaft auf sich aufmerksam zu machen: Seht her, solch einen Typen kann ich abschleppen!

      Jonas hieß der Kerl, und obschon Ulla nicht sonderlich bibelfest war, wusste er, dass es dort irgend so eine komische Geschichte mit einem Walfisch gab.

      Es sollte aber noch viel biblischer werden; denn irgendwann fing dieser Kerl an zu erzählen, dass er nur eine Art Vorprogramm sei für eine Show, in deren Genuss Ulla auch noch kommen könne, wenn er nur wollte. Und auch das weckte bei Ulla irgendwelche nebulösen Erinnerungsfetzen aus zehn Jahren katholischem Religionsunterricht; da hatte doch auch mal jemand gesagt, er selber sei zwar schon eine heiße Nummer, aber es werde jemand kommen, dem traue er sich nicht einmal die Hose aufzumachen. So oder zumindest so ähnlich.

      Zum ersten Mal dämmerte dann in dieser Nacht bei Ulla die Erkenntnis, dass das sexuelle Verlangen schon seit Jahrmillionen nie etwas anderes als eine virtuelle Welt im Kopf jedes Einzelnen war; und solang sie dort blieb, war sie grenzenlos, machte vor gar nichts halt. Ihre Umsetzung in der realen Welt allerdings fand die Grenzen spätestens dort, wo der Körper des Menschen an seine Grenzen kam, weil er zum Beispiel den ihm zugefügten Schmerz nicht mehr als sexuelle Stimulation empfinden konnte, sondern als elementare Bedrohung und ihn ganz einfach nicht mehr aushielt.

      Und dieser Jonas ließ ihn diese Grenze ganz schnell erreichen, scherte sich um seine Einwände überhaupt nicht und verstand es vor allem, sich über Stunden auf dem schmalen Grad zwischen dem Auslösen schier grenzenloser Lust und dem Zufügen von nicht mehr zu ertragendem Schmerz zu bewegen. Dass er dabei immer geiler wurde, machte Ulla ab und zu sogar Angst; denn wenn es in der Sado-Maso-Szene eine wichtige Spielregel gab, dann war es die, die Grenze zwischen Ritual und Realität immer im Auge behalten zu müssen, weil es ansonsten auch mal ganz schön schief laufen konnte.

      Als dieser Jonas seine aufgestaute Geilheit nach fast drei Stunden und wie Ulla meinte geradezu literweise in seinen Mund entleert hatte, war ganz offensichtlich dessen Interesse an Ulla mit einem Schlag erloschen. Als Mensch hatte er ihn natürlich ohnehin nicht interessiert; das kannte Ulla von seinen Kontakten mit echten Kerlen schließlich zur Genüge. Endgültig war Ulla aber erst davon überzeugt, als er noch zwischen den weit gespreizten Oberschenkeln des Fremden auf dem Boden hockte, der langsam den Reißverschluss seiner Jeans nach oben zog und wie beiläufig und doch laut und vernehmlich sagte: „Beim nächsten Mal mache ich dich tot.“

      Es kam so gut wie nie vor, dass es Ulla die Sprache verschlagen hatte; aber in dem Augenblick war es so, er wagte nicht einmal mehr nachzufragen, ob er sich eventuell verhört habe, und das nachfolgende Schweigen wurde fast peinlich. Erst nach ein paar Minuten schien der Fremde plötzlich wieder bei der Sache zu sein. „Hat’s dir gefallen?“, wollte er wissen.

      „Na klar.“

      „Lässt du es dir oft so machen?“

      „Nicht oft.“

      „Warum denn nicht? Du brauchst das doch.“

      „Weil man kaum jemanden СКАЧАТЬ