Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
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Название: Der Pferdestricker

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750219397

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СКАЧАТЬ als ihr die schiere Unmöglichkeit deutlich wurde, einer vollkommen dummen und ignoranten Masse die Reichweite dieses Begriffs jemals zu verdeutlichen. Und als sie dann glaubte, immer schon gewusst zu haben, einem Beruf nachzugehen, in dem man an der Verantwortung, die man trug, fast verzweifeln konnte, gelang es ihr sogar für kurze Zeit, in einem unverbindlichen Gefühl aus Stolz, Resignation und Weltschmerz zu schwelgen.

      Die Mythologie, das war schließlich nicht weniger als Ursprung und Grundlage des menschlichen Denkens und damit aller Entwicklung. Es gab nichts anderes, von dem sie so felsenfest überzeugt war. Was wir als Erkenntnis zunächst nur in Bildern formulieren und weitergeben konnten, wurde durch den kritischen Geist immer wieder in Frage gestellt und schließlich durch das Wort, den Begriff, die Sprache auf den Punkt gebracht und überwunden. Und die Entwicklung, die die Menschheit insgesamt durchlaufen hatte, wurde von jedem einzelnen Menschen im Laufe seines Lebens wiederholt. Das Kind dachte in Bildern, der erwachsene Mensch in der Sprache; nur im Traum und in krankhaften Geisteszuständen konnten die Bilder wieder die Oberhand im Denken des zivilisierten Menschen erlangen. Und als sie daran dachte, musste sie wieder lachen: Ihre Schüler würden vielleicht eines Tages zu der Erkenntnis kommen, dass die Beschäftigung mit den Bildern von Boygroups in einem Jugendmagazin ein überflüssiger Umweg und damit verschwendete Zeit war; aber zu einem Mehr an Erkenntnis würde es wohl kaum reichen.

      Und dann hatte sie etwas gehört. Es hatte sie nicht erschreckt, es hatte nur diese unendliche Ruhe und das klitzekleine Bisschen Seelenfrieden gestört, den ihr ihre Lieblingsbeschäftigung, die Verachtung anderer Menschen, für kurze Zeit verschafft hatte. Und sie hätte auch beim besten Willen nicht sagen können, was genau sie gehört hatte. Es waren keine Stimmen gewesen, vielleicht war es sogar irgendetwas gewesen, das mit Menschen gar nichts zu tun hatte, und plötzlich machte ihr gerade diese Vorstellung Angst. Fremde Menschen waren ihr, wenn sie ehrlich war, immer unheimlich gewesen, es gab in Wirklichkeit kaum jemanden, vor dem sie nicht Angst hatte und den sie aus eben diesem Grund zu verachten versuchte; aber gegen andere Menschen hatte sie zumindest wegen ihrer Intelligenz immer noch eine Chance gehabt.

      Als sie voller Anspannung den Atem anhielt, hörte sie wieder Geräusche, und nun waren diese Geräusche eindeutig als menschliche Stimmen zu identifizieren. Und als sei dies das endgültige Signal, nun unbedingt äußerste Vorsicht walten zu lassen, ging sie hinter einer dichten Buschreihe in die Hocke und starrte gebannt in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Vor ihr lag eine sandige Mulde, die von der Höhe, auf der sie stand, vollständig einsehbar war.

      Es waren zwei Männer, die langsam und leise miteinander redend über den gegenüberliegenden Dünenrand kamen, so dass zunächst nur ihre Köpfe, dann ihre Oberkörper und schließlich ihre gesamten Körper sichtbar wurden. Der eine der Männer mochte Anfang, Mitte 50 sein, der andere vielleicht Mitte bis Ende 20. Der ältere war untersetzt, wirkte grobschlächtig; der jüngere war schlank und groß. Aber es waren nicht ihre körperlichen Merkmale, was sie in Erstaunen versetzte: der ältere Mann trug ein rot-weiß kariertes Hemd, eine dreiviertellange Lederhose, passende derbe Schuhe und ein Baseballcap, Kleidung, mit der er auf dem Münchener Oktoberfest und vielleicht auch am Ballermann in Arenal keinerlei Aufsehen erregt hätte, hier aber irgendwie deplaciert wirkte. Der jüngere Mann war unauffällig gekleidet: T-Shirt, Turnhose, Sportschuhe und ebenfalls ein Baseballcap. Er trug außerdem einen Rucksack und sah aus wie jemand, der gerade den Rückweg vom Strand angetreten hatte.

      Und dann dieses Pferd. Es war kein Pferd, es war eher ein Pony, und doch sah es nicht aus wie ein Pony, sondern eher wie ein Pferd. Ihre Gedanken kamen ihr selber albern vor, und doch war es genau so: Dieses Tier war viel kleiner als ein Pferd, aber es war nicht so rundlich und fett, wie man es von Ponys gewohnt war. Würde sie es nun alleine hier in dieser Mulde sehen, so ließe es sie an ein edles Araberpferd denken; da der untersetzte ältere Mann es an einer Leine hinter sich herzog, wirkte es im Vergleich zu ihm aber kleiner als ein normales Pferd, geradezu zerbrechlich. Und dann war ihr klar, dass ihr zu der Szene, die sich ihren Augen bot, einfach keine Geschichte zur Begründung einfallen wollte: Was machten diese zwei erwachsenen Männer in dieser gottverlassenen Gegend mit diesem Tier? Es sah einfach grotesk aus.

      Mittlerweile waren die beiden Männer in der Mitte der Senke stehen geblieben und der junge Mann hatte den Rucksack von seinem Rücken auf den Boden fallen lassen. Anschließend waren beide Männer damit beschäftigt, irgendwelche Utensilien in dem Rucksack zu suchen. Der junge Mann hatte schließlich eine Kamera in der Hand, er stand auf und hielt sich das Okular der Kamera prüfend vor das Auge. Dann wurde ihm die Sucherei des älteren Mannes ganz offensichtlich zu bunt; er nahm energisch den Rucksack hoch und ließ kurzerhand den gesamten Inhalt in den Sand fallen. Sie konnte nicht erkennen, was in dem Rucksack gewesen war und nun wie achtlos weggeworfener Müll im Sand lag.

      Ganz offensichtlich hatte es der junge Mann mit der Kamera eilig. Mit Gesten und Worten trieb er nun den älteren zur Eile an, und dann war ihr auch klar, dass sie Landsleute beobachtete: Nu mach doch schon! Wir sollten hier nicht ewig bleiben!, hatte sie ganz deutlich verstehen können. Dabei war ihr ein ganz leichter Akzent aufgefallen. Der junge Mann musste aus Osteuropa kommen. Der ältere kam ganz offensichtlich aus Bayern: Nu mach mal nicht die Pferde scheu, sagte er im reinsten Honoratiorenbayrisch und lachte plötzlich los.

      Bereits als der ältere Mann ganz offensichtlich der Aufforderung zur Eile nachkam und auf das kleine Tier zuging, wurde er von dem jüngeren Mann mit der Kamera aufgenommen. Der ältere Mann nahm den Strick, der um den Hals des Tieres gebunden war, und ging anschließend in einem weiten Kreis um den mittlerweile in der Mitte der Mulde stehenden jungen Mann. Jetzt bleib mal stehen!

      Der ältere Mann stand nun mit dem Rücken zu ihr; das Pferd trottete langsam auf ihn zu und blieb schließlich wie gelangweilt vor ihm stehen. Sie sah auf ihre Armbanduhr: es war viertel vor sieben, und noch immer schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel! Die für den heutigen Tag prognostizierten knapp 30 Grad mussten immer noch herrschen.

      Jetzt lass sie mal sehen, wie sehr du dich schon freust!

      Und wieder war da der Hinweis gewesen auf einen ganz leichten osteuropäischen Akzent. Das e in sehen und in sehr war viel zu kurz gewesen.

      Der ältere Mann stand aus ihrer Perspektive nun direkt vor dem kleinen Pferd, so dass sein massiger Körper es völlig verdeckte und sie es gar nicht sehen konnte. Zudem blickte sie nun fast in die Sonne, die über der rechten Schulter des Mannes stand und sie blendete. Den Strick, mit dem er zuvor das Tier geführt hatte, gab er in die linke Hand und mit der rechten fummelte er ganz offensichtlich an der Vorderseite seiner ledernen Hose herum. Nach einer weiteren Anweisung des jungen Mannes wippte der ältere plötzlich auf den Zehenspitzen, und dann kam ihr die Szene mit einem Schlag peinlich bekannt vor: Aus ihr bis heute unerfindlichen Gründen war sie in der Schule vor rund zwei Jahren einmal versehentlich in die Herrentoilette gelaufen und hatte dort den stellvertretenden Schulleiter, Studiendirektor Malmes, am Pissoir stehen sehen. Er hatte ebenso auf den Zehenspitzen gewippt wie der grobschlächtige Kerl im Bajuwarenoutfit und war kurz darauf an Prostatakrebs gestorben. Viele hatten das angeblich kommen sehen. Sie jedenfalls nicht. Ihr war dieser Vorfall nur unendlich peinlich gewesen.

      So ist es schön, sagte die junge Stimme schließlich, und da klang das ö viel zu sehr nach einem e.

      Jetzt zeig ihr, was du willst! Nun war es eindeutig: das war kein ai, sondern ein ei gewesen in zeigen.

      Ein paar Mal noch wippte der ältere Mann auf den Zehenspitzen, dann zog er plötzlich seine Lederhose nach oben, als wolle er deutlich machen, dass sein großer Hintern sie auch ausfüllte. Nu mach schon! Muss ich hier ewig warten? Nun gab es keinen Hinweis mehr auf irgendeinen ausländischen Akzent.

      Die Stimme des jungen Mannes hatte gelangweilt und doch gereizt geklungen, so als mache der ältere alles falsch oder tue einfach nicht, was ganz offensichtlich von ihm erwartet wurde. Noch immer unter dem Blick der auf ihn gerichteten Kamera ließ der ältere Mann den Strick fallen, mit dem er zuvor das СКАЧАТЬ