Название: Auf Biegen oder Brechen
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750218949
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Der wusste doch bestimmt mehr. Kontakt hatte er zu Bremminger nicht mehr; nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst vor rund neun Monaten hatte er die Kollegen nur einmal wiedergesehen. Es war auf einem Skatabend bei Milewski gewesen. Bremminger hatte ihn angerufen, er sollte doch auch kommen, und Börner hatte das unheimlich nett gefunden von Bremminger. Und dann war der ganze Abend fürchterlich gewesen. Er war mit dem Wagen zu Milewski gefahren, hatte also nichts trinken dürfen und dann sich selbst und den ganzen Abend unausstehlich gefunden. Skat konnte er ohnehin nicht ausstehen, weil es ein Spiel für besoffene Machos war. Und den ganzen Abend hatte er nicht gewagt, Milewski zwischen die Beine zu sehen. Und aus dem Grund war er ja nur hingegangen.
Er redete sich nun ein, dass es doch schön wäre, seinen Freund Bremminger einfach mal anzurufen. Er hatte das noch nie getan; Bremminger nach dem Skatabend aber auch nicht.
Natürlich wusste er, dass er Bremminger nicht anrufen würde. Was sollte er dem schließlich auch sagen? Außerdem brauchte er keine Hilfe. Er wurde allein mit allem fertig.
9
Gegen 20 Uhr hatte Börner die siebte Flasche geleert, und alles, was von den vergangenen fünf Morden in seiner Tageszeitung erwähnt worden war, fand sich mit Datum versehen auf Schreibmaschinenpapier geklebt. Erst jetzt fiel Börner wieder das bereits in mehreren Ausgaben der Zeitung erschienene Bild des Täters wieder auf: Halblange schwarze Haare, dunkle Augen und ein Schnäuzer. Der junge Mann gefiel ihm. Der Kerl sah wirklich unheimlich nett aus.
Eine Zeit lang sah er auf das Bild in der Zeitung und glaubte plötzlich, in einen Spiegel zu schauen: Dunkle Haare, dunkle Augen, ein Schnäuzer. Auf einmal interessierten Börner alle in den Zeitungen angegebenen Informationen über den Mörder. Zunächst las er noch einmal die von ihm auf weißes Schreibmaschinenpapier geklebten Artikel, machte Notizen, sah dann nochmals alle Zeitungen, beginnend vom 29.April, durch. Dadurch wurde, was er zu schreiben hatte, nicht mehr: Der Mörder hatte schwarze, halblange Haare, einen Schnäuzer; außerdem war er relativ klein - die Zeugen hatten von 1,65 bis 1,70 gesprochen. Wie gebannt sah er auf das Bild des Täters, von dem er wusste, dass die Leute vom LKA es mit dem Minolta-Verfahren aus zig anderen Fotografien hergestellt hatten. Den Menschen, den er vor sich sah, gab es nicht. Es war doch völlig verrückt, dass man sich auch in Menschen verlieben konnte, die es gar nicht gab.
Börner lief zum Telefon und durchwühlte die Seiten seines Telefonverzeichnisses. Irgendwo musste die Nummer des Bekannten aus Essen stehen, der ihn damals mit auf die Fete nach Langendreer genommen hatte. Dann begann er zu lachen: Er wusste den Namen dieses Bekannten gar nicht mehr. Hatte er den eigentlich jemals gewusst?
Börner versuchte sich zu erinnern an den Abend, als er diesen Bekannten kennengelernt hatte. Es musste einer jener Abende gewesen sein, an denen er ausprobierte, ob er es wagte, alleine in eine Schwulenkneipe zu gehen. Man konnte so etwas lernen. Es war so eine Art Überlebenstraining.
Das Gesicht des Bekannten sah er noch genau vor sich. Es gefiel ihm nicht besonders, aber es hatte ihn angesehen, als er an irgendeinem Abend vor vielleicht einem Jahr in einer Kneipe in Essen gewesen war. Und plötzlich wusste er den Namen: Heinz. Der Bekannte hieß Heinz. Er wusste es plötzlich wieder, da er dem jungen Mann gleich zu Beginn gesagt hatte, dass er erstaunt wäre: Unter Heinz hätte er sich immer richtige Männer vorgestellt.
Für Börner gab es zwei Kategorien von Männern. Zu der einen Kategorie gehörten Männer wie Milewski, die er anhimmelte, denen er die Füße küssen würde, wenn er sie nur anzureden wagte. An der zweiten Kategorie Männer konnte man sich für diesen Frust rächen, konnte selber Milewski spielen und sie gebrauchen. Heinz hatte er damals sofort in die zweite Kategorie eingeordnet und damit Recht behalten.
Noch einmal sah Börner sein Telefonverzeichnis durch. Unter dem Buchstaben H gab es nur einen Heinz. Heinz Behrend. Der musste es sein. Die Rufnummer, die Börner nun wählte, ging auch nach Essen; das war aus der Vorwahl zu ersehen. Das Geräusch im Hörer machte deutlich, dass der Ruf durchging.
Auflegen oder doch, dachte Börner, als das rhythmische Gequäke des Telefonrufs in sein Ohr drang. Gänzlich unerwartet war da eine Stimme.
"Behrend."
Sofort erkannte Börner die Stimme wieder. Er hatte sich erschrocken, insgeheim gehofft, der Bekannte wäre nicht zu Hause.
"Ja, hier ist Börner, Richard Börner." Der Alkohol machte ihm das Sprechen schwer.
"Wer ist da?" Die Stimme klang halb belustigt, halb verärgert.
Nun wurde Börner wütend. Es gab ohnehin kein Zurück mehr. Nun machte ihm das Sprechen, wie er meinte, keine Schwierigkeiten mehr; dennoch dauerte es eine Weile, bis der Bekannte sich an ihn erinnerte.
Dann kam Börner zur Sache. "Sag mal, du erinnerst dich doch noch an diese Fete in Langendreer?"
Der Bekannte erinnerte sich nicht, und dann war Börner der Faden gerissen; es war so schwer, das alles am Telefon zu besprechen. "Du, sag mal, können wir uns mal sehen?"
Der Bekannte war anscheinend überrascht. "Von mir aus. Wann hast du denn mal Zeit?"
"Wir müssen uns sofort sehen. Es ist sehr wichtig."
"Sofort? Um was geht es denn?"
Ungeschickt erklärte Börner dem Bekannten, dass er das Mordopfer aus Bochum, diesen Christoph K., auf der Fete in Langendreer kennengelernt hatte.
"Ich denk, du bist bei der Kripo." Die Stimme des Bekannten war nun ironisch. "Da müsstest du doch eigentlich wissen, dass auch der Bennie und sein Freund", der Bekannte zögerte einen Augenblick, "die sind doch auch von diesem Wahnsinnigen umgelegt worden."
"Welchen Bennie meinst du denn?"
"Na, der hat doch die Fete gegeben."
Börner ließ vor Schreck fast den Hörer fallen. "Sag mal, bist du heute Abend zu Hause?"
"Ja."
"Ich komme mal vorbei." Der Bekannte widersprach nicht; Börner ließ ihm aber auch keine Zeit dazu. "Es kann aber etwas dauern. Ich muss mit dem Zug fahren. Ich hab nämlich was getrunken."
Es hatte ihm nichts ausgemacht, das zu sagen. Die Bemerkung des Bekannten, das könne man merken, hatte er aber nicht überhört.
In aller Eile packte Börner seine Notizen zusammen und lief aus dem Haus. Bis zum Hauptbahnhof wollte er laufen; er konnte jetzt nicht wer weiß wie lange untätig auf eine Straßenbahn warten.
Es war kurz nach halb neun, und schon nach einer kurzen Strecke machten sich die Nachteile des Bierkonsums bemerkbar. An der Georgskirche konnte es ihm dann nur noch egal sein: Obschon es noch hell war, stellte er sich in das niedrige Gebüsch und pinkelte.
An einem Kiosk am Grillogymnasium kaufte er sich einen Flachmann. Das war ihm nicht peinlich: Er wollte sich jetzt besaufen, weil er Angst hatte, dass er sich sonst alles noch anders überlegen könnte.
Er erreichte den Zug um kurz nach neun, hatte sich zuvor vorgenommen, während der Fahrt noch einmal alle Fälle durchzugehen. Vor allem interessierte ihn die Frage, bei welchem der Morde dieser Bennie, der die Fete gegeben hatte, und dessen Freund getötet worden waren. Er kam aber nicht dazu: Die ganze Zeit hatte er auf das Auftauchen der Hochhäuser der Essener Innenstadt gewartet.
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