Название: Auf Biegen oder Brechen
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750218949
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Aber diese Flausen vergingen einem, je länger man bei der Polizei arbeitete. Das wusste Hauptkommissar Weber aus Erfahrung.
Die rosa Listen, die Personenfeststellungen bei der augenblicklichen Fahndung und die Befragung der eigenen Kartei mussten einfach etwas bringen. In den nächsten Tagen würden einige Schwule dumm aus der Wäsche gucken, wenn sie plötzlich in ihrem Briefkasten eine Vorladung der Kripo fanden. Natürlich würde es den üblichen Protest von Schwulengruppen geben; vielleicht würden auch einige progressive Zeitungsfritzen in das gleiche Horn tuten. Aber es war Webers Lieblingsspruch, dass ihm irgendetwas so egal sei, als wenn in China ein Sack Reis vom Regal fällt.
Die Idee des jungen Bergermann, einem wahnsinnigen Mörder dicht auf den Fersen zu sein, hatte also einiges in Bewegung gesetzt. Konkret erreicht worden war aber noch nichts. Oder doch: Die Gewissheit, dass die Morde in Dortmund und Bochum von dem gleichen Täter verübt worden waren wie der in Essen; und die Vermutung, dass auch die anderen Opfer Schwule waren. Nur dazu hätte es nicht eines solchen Riesenaufwands bedurft, und natürlich wollte die Presse gerade dafür eine Erklärung. Die Verantwortlichen waren letztlich noch froh, als die Presse von mangelhafter Kooperation zwischen den Polizeibehörden der einzelnen Städte schrieb: Der wirkliche Grund für das Scheitern der Aktion konnte unmöglich in der Presse erscheinen. Es hätte ohnehin niemand glauben können.
Der Streifenwagen von zwei Gelsenkirchener Beamten hielt in der besagten Nacht von Samstag auf Sonntag auf dem breiten Parkstreifen an der Zeppelinallee in Höhe des Stadtgartens. Die Zeit zwischen Mitternacht und drei Uhr war die schlimmste Spanne des Nachtdienstes, und den Beginn des Einsatzes am Hauptbahnhof hatten die beiden Beamten schlichtweg verpennt.
Die Tatsache, dass er von der Polizei aufgehalten wurde, hatte der junge Mann, der aus dem breiten, zum Ehrenmal führenden Weg in die Zeppelinallee einbog, also dem Umstand zu verdanken, dass die beiden Beamten eine Art Alibi brauchten für ihr zu spätes Erscheinen am Einsatzort. Der Mann wäre ihnen auf der menschenleeren Straße ohnehin aufgefallen, aber trotz seiner zerrissenen Hose und der verschmierten Kleidung hätte er sie normalerweise nicht interessiert: Man konnte sich nicht um jeden Betrunkenen kümmern.
Jetzt war es etwas anderes. Die Beamten waren erstaunt, dass der junge Mann gar nicht betrunken war, und auf die Frage, weshalb er so übel zugerichtet aussehe, antwortete der, er sei in Rotthausen von ein paar Halbstarken belästigt worden, sei weggelaufen und dabei hingestürzt. Da der junge Mann tatsächlich sehr erschöpft und noch sehr aufgeregt war, schien den Beamten die Antwort plausibel. Einen Ausweis hatte der junge Mann nicht dabei, und da auch die Zeit drängte, ließen die Beamten den Mann weitergehen mit dem Ratschlag, sich mit kriminellen Elementen nicht anzulegen.
Die beiden Beamten würden in der Hierarchie der Ordnungshüter nicht weiter nach oben kommen: Von den Morden in Bochum und Dortmund hatten sie noch nichts gehört. Dass es heute Abend ebenfalls um einen Mörder ging, interessierte sie nur wenig. Das Portrait des Mörders war ihnen in den Zeitungen auch nicht aufgefallen. Doch als am Ende der ganzen Aktion der junge Bergermann dem Zeugen eben dieses Foto präsentierte, traf die beiden fast der Schlag. Es bestand nicht der geringste Zweifel: Den Mann hatten sie gerade gesehen, und zwar in natura. Es war gut, dass in ihrem Fall wenigstens die Abstimmung untereinander funktionierte: Beide hatte der Schlag getroffen, und beide sagten nichts.
Und so sollte es nie herauskommen, dass es für die ganze Sache nur eine plausible Erklärung geben konnte: Der Mörder war im Zug gewesen. Aber er musste befürchtet haben, dass die Polizei ihm auf den Fersen war. Und in Rotthausen, kurz vor dem Hauptbahnhof Gelsenkirchen, wo die Bahnlinie von Essen auf die nördliche Ost-West-Verbindung des Ruhrgebiets trifft und die Züge ihr Tempo stark verringern müssen, musste der Täter aus dem Zug gesprungen sein.
Sie hätten eine Schlägerei in Rotthausen schlichten müssen, sagten die beiden Beamten zur Entschuldigung dafür, dass sie viel zu spät am Hauptbahnhof eintrafen. Ein junger Mann sei von ein paar Halbstarken belästigt und ziemlich derbe verprügelt worden.
"Eine Scheißorganisation ist das", fluchte Hauptkommissar Bremminger, der zur Unterstützung seines Kollegen aus Essen ebenfalls anwesend war. Er war enttäuscht darüber, dass die ganze Aktion nichts gebracht hatte.
Es ist nicht auszudenken, was Bremminger gesagt hätte, hätten die beiden Beamten nicht gelogen.
Diese Nacht hatte also viel Arbeit und viel Ärger gebracht. In der nächsten Woche sollte die zentrale Ermittlung des Falles mit Dortmund als federführender Dienststelle beginnen. Und schon kurz nachdem diese Sonderkommission die Arbeit aufgenommen hatte, mussten die Beamten der Dortmunder Kripo einen schlimmen Verdacht hegen: Der Täter hatte noch weitere Pläne, und offenbar fühlte er sich unter Zeitdruck. Denn bereits am folgenden Donnerstag gab es das nächste Opfer zu beklagen. Im Bochumer Bergmannsheil wurde während des Nachtdienstes ein Krankenpfleger auf die bekannte Weise ermordet.
Und dann hatte sich plötzlich etwas geändert. Die Berichterstattung über die Ereignisse in den Medien waren für die Menschen keine unverbindliche Unterbrechung ihres langweiligen Alltags mehr. Angst machte sich breit, zumindest in den Städten des Ruhrgebiets. Es war einfach nicht normal, was da geschah, es war nicht mehr zu begreifen. Von einem gemeingefährlichen Verrückten sprach nun nicht nur die Boulevardpresse.
Eine Pressekonferenz der Dortmunder Sonderkommission brachte am folgenden Freitag neue Erkenntnisse, die die Öffentlichkeit dann wieder beruhigen konnten. Nach den bisherigen Untersuchungen stand es angeblich außer Zweifel, dass alle fünf Opfer Homosexuelle waren.
Damit hatte das Unfassbare für die Menge wenigstens ein Gesicht, das Unnormale, Perverse hatte plötzlich einen Namen, der der Menge seit jeher geläufig und vertraut war: So etwas passierte eben in homosexuellen Kreisen. Natürlich. War doch schon immer so.
6
Immer wieder kamen Tage, die einfach unerträglich waren. Früher hatte Börner dieses Gefühl Depression genannt. Er hatte ganze Bibliotheken zu diesem Thema gelesen. Jetzt war das natürlich alles Unsinn. Das Gefühl war im Grunde die Angst, sich mit seinem eigenen jämmerlichen Leben ganz unausweichlich konfrontiert zu sehen, das Wissen, mit dem eigenen Schwulsein einfach nicht fertigzuwerden, davor wegzulaufen. Er fand eben zu oft Männer geil, wollte sich zu oft an deren Ärschen und Schwänzen zu schaffen machen und machte letztlich ohnehin nichts: Das konnte ja nicht gut gehen, dabei musste man depressiv werden.
Dieses Gefühl der Unerträglichkeit, des Ekels vor sich selbst, kam in der Regel nicht plötzlich und unerwartet, sondern kündigte sich an. Die Summe der täglichen Frustsituationen häufte sich an, wurde als ein immer größer werdender Berg nach vorne gerollt. Börner spürte es jedes Mal, wie seine Bewegungen langsamer wurden, wie seine Kräfte nachließen. Er konnte aussteigen, einen Abend vielleicht, wenn er sich volllaufen ließ. Insgesamt beschleunigte die Sauferei den Prozess aber nur: Irgendwann stand er dann mit schöner Regelmäßigkeit vor dem Unausweichlichen wie das Kaninchen vor der Schlange.
Es gab Tage, die für den Ausbruch dieses Gefühls besonders geeignet waren: Börner hatte Angst vor den Sonntagen, besonders vor den Sonntagnachmittagen, und jedes Mal, wenn ihm diese Angst bewusst wurde, wurde sie im Laufe des Tages auch bestätigt.
Die Verachtung der eigenen Person war das Schlimmste. Es war die Überzeugung, versagt zu haben, überhaupt immer zu versagen. Er machte eben alles falsch, die anderen machten alles richtig. Vor allem die anderen Männer. Die Wiederkehr des immer Gleichen tat ein übriges. Das war nicht nur heute so, das war einfach immer so. Es musste angeboren sein! Und es war eigentlich СКАЧАТЬ