Название: Tanja liest
Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783741847974
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Er würde allerdings mit Rehbein sprechen müssen, ihr erklären müssen, dass er sie nicht übergehen wollte, dass er sie für durchaus qualifiziert hielt, ebenfalls in diesem Team eine Rolle zu spielen, dass diese Idee rein zufällig mit ihrer Pensionierung zeitlich zusammengefallen war. Das wäre er Elke Rehbein schuldig. Mindestens.
Er hatte sich vorgenommen, beim Auswahlgespräch nicht persönlich anwesend zu sein, denn er wollte ein unverstelltes Bild von den Kandidaten gewinnen. Also würde er nur Beobachter sein. Sein müssen, wenn er Charakterstudien betreiben wollte, und das wollte er, denn wenn er den Vorsitz übernähme, würden die Kandidaten sich alles andere als natürlich geben, das wusste er aus Erfahrung. Allerdings würde er ein sehr aktiver Beobachter sein, so waren seine Planungen.
Hönnes‘ Zurruhesetzung hatte er allerdings vollkommen verdrängt.
„Wollen Sie eine Zeitschrift?“, fragte die Mitwartende und reichte ihr ein buntes Blatt.
„Nein danke.“, lächelte Tanja und drückte Martha, die auf ihrem Schoß saß, enger an sich. Sie sah zu der Uhr an der Wand und verfolgte den Sekundenzeiger mit dem Blick. Ja, mit Zeit kannte sie sich aus. Mit Zeit und mit Zahlen.
Sie saß mit Martha im Sprechzimmer und wartete auf den Arzt, auf dessen Schreibtisch eine Digitaluhr stand. Eine mit Sekundenanzeige. Wenn sie jemand gefragt hätte, in wieviel Sekunden Martha zwölf würde, sie hätte es auf Anhieb sagen können. Aber es fragte niemand.
„Es ist nichts Schlimmes, Frau Kiel; ich werde Martha ein paar Tropfen aufschreiben, die sollten den kleinen Magen bald wieder in Ordnung bringen. Die abweichende Dosierung schreibe ich Ihnen auf einen Zettel.“ Der beleibte Kinderarzt reichte Tanja ein kleines Blatt Papier und das Rezept.
„So, Frau Kiel. Die Einnahme so, wie Ihnen der Arzt es aufgeschrieben hat.“ Der Apotheker steckte das kleine Fläschchen in eine Tüte und reichte sie der Dunkelhaarigen mit einem freundlichen Lächeln. Mit einem ebensolchen Lächeln nahm Tanja die Tüte entgegen und verließ die Apotheke. Sie wusste allerdings, dass sie mit der Tüte und dem Fläschchen auch ein Problem bekommen hatte. Eines mehr.
Rehbein hörte es summen und sah auf das Licht, das auf der Kommunikationsstation blinkte. Er war da. Sie drückte auf einen Knopf und sagte: „Morgen, Herr Wulvsen. Was kann ich für Sie tun?“
„Rufen Sie die Frau von Hönnes an und sagen Sie ihr, dass ihr Mann sie morgen Abend zum Essen einlädt; sie soll sich hübsch machen; dann kommen Sie mit dem Tagesplan.“ Sie schwieg. Sie hörte ein Schnaufen. „Bitte.“, sagte er dann. „Und danke für das Frühstück.“, schob er ein paar Sekunden später nach.
„Alles klar.“, lächelte sie zufrieden. Sie hatte lange gebraucht, ihm etwas Höflichkeit beizubringen, jedenfalls, was seinen Umgang mit ihr selbst anbelangte, aber es war ihr schließlich gelungen, und damit nahm sie, was ihr durchaus bewusst war, weltweit eine Sonderstellung ein.
Tanja hatte sich einige Strategien und Taktiken ausgedacht im Laufe ihres bisherigen Lebens, um andere Menschen zu täuschen. Darüber hinwegzutäuschen, dass sie eine bestimmte Kulturtechnik nicht beherrschte. Da sie zu jung für Lesebrillen war, funktionierte dieser Trick allerdings nicht. Aber Allergien, ihre kleine Nichte, Desinteresse, plötzlich auftretende Kopfschmerzen, unbestimmte, temporäre Konzentrationsmängel und allerlei mehr dienten der Entschuldigung, dargebotene Zeitungen, Bücher und Ähnliches dankend abzulehnen. Das klappte allerdings nicht immer. Als junger Mensch war sie, wenn sie ertappt worden war, nicht lesen zu können, in Tränen ausgebrochen, war rot geworden und manchmal einfach weggelaufen. Zum Heulen und Laufen war ihr auch als Erwachsener in solchen Situationen zumute, aber sie hatte gelernt sich zu beherrschen und sich schweigend abzuwenden. Niemals jedoch hatte sie zugegeben, was sie zu verbergen suchte.
Sven Ariel war ein hübscher Junge und später ein gutaussehender Mann. Er war für einen Mann mittelgroß, blond, breitschultrig, hatte blaue Augen, ein kantiges Gesicht und auch im Winter leicht gebräunte Haut. Er trieb gerne Sport und entsprechend war sein Körper geformt. Er war der Schwarm aller Mädchen und Frauen, Typ Schwede. Er war sanft, zurückhaltend, einfühlsam und achtete auf sein Äußeres. Er pflegte sein Haar, seine Fingernägel, rasierte sich penibel, und zwar nicht nur im Gesicht und war musisch interessiert. Er liebte Literatur und Autos.
Zeitweise litt er unter seinem Nachnamen, der ihn manchmal zum Gespött der Mitschüler machte, besonders in den höheren Klassen, als die Schüler mit dem Namen etwas assoziieren konnten. Aber mehr noch als unter seinem Namen litt er unter seinem Körper. Das Leiden wurde besonders stark, als sein Körper sich endgültig entschieden hatte, ein Mann zu werden, und zwar ein besonders männlicher, gut aussehender Mann. Denn seine Seele, sein Kopf, waren da anders disponiert. Er machte Abitur, wurde später Berufskraftfahrer, und zwar ein guter. So gut, dass er bald die Chefs fuhr. Doch das Unwohlsein wurde stärker und er fürchtete, vor lauter Verwirrung seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Und so entschloss er sich, das zu werden, wovon er immer geträumt hatte: eine Frau.
Svenja Ariel war eine gutaussehende, umwerfende Frau. Sie war für eine Frau recht groß, blond, hatte breite Schultern, blaue Augen, ein kantiges Gesicht und auch im Winter gebräunte Haut. Sie trieb Sport und war infolgedessen schlank und durchtrainiert. Sie war ein Typ Frau, auf den manche Männer stehen, Typ Schwedin. Sie war vielleicht ein wenig maskulin und achtete sehr auf ihr Aussehen. Ihren Nachnamen fanden die Leute interessant, genauso wie ihre etwas tiefe Stimme. Bis auf eine entscheidende Kleinigkeit war sie eine begehrenswerte Frau.
Doch ihre Metamorphose konnte natürlich nicht geheim bleiben, und die Gesellschaft und ihre Umgebung, vor allem die Kollegen, waren nicht so beschaffen, dass sie mit einer derartigen Verwandlung in einer Art und Weise umgingen, umgehen konnten, die für alle, vor allem für die sich Verändernde, befriedigend war.
So froh Svenja Ariel gewesen war, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer richtigen Frau zu tun, so wohl sie sich in der äußeren Hülle einer Frau fühlte, so verzweifelt war sie über ihr Ausgestoßensein. Es gab nicht viele Menschen, die sie vorbehaltlos zu ihren Freunden zählen konnte. Ihre Eltern hatten den Kontakt abgebrochen, sobald sie sie mit ihren Plänen konfrontiert hatte. Freunde und Freundinnen hatten sich abgewendet, die Kollegen verspotteten sie.
Geblieben war ihr einzig Jürgen Link, der vor etwas mehr als fünfzehn Jahren die Jugendgruppe geleitet hatte, in der sie sich engagiert hatte und den sie ab und zu noch immer traf. Link war der einzige, der in ihr Geheimnis quasi von Anfang an eingeweiht war, denn sie hatte sich nach einer Konfirmandenfreizeit ihm anvertraut. Es war keine Beichte, sondern einfach nur das Ausschütten des Herzens vor einem Menschen gewesen, der ihr vorurteilslos gegenüberzutreten bereit gewesen war.
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