Название: Tanja liest
Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783741847974
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Martha hatte sich ein wenig erschrocken, als sie seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Einen Augenblick hatte sie daran gedacht, noch einmal in die Tagesstätte zurückzugehen, aber als er dann vorbeilief und keine weitere Gefahr von ihm auszugehen schien, änderte sie ihre Pläne.
Ähnlich wie Martha hätten durchaus auch Erwachsene reagiert, wenn Roger Wulvsen mit grimmiger Miene auf sie zugelaufen gekommen wäre, und so hielt sich die Fünfjährige also ziemlich tapfer, als sie der Gefahr trotzte. Doch die Zeit der Prüfungen hatte erst begonnen.
Bei gutem Wetter sah sie den Mann, dem sie zu diesem Zeitpunkt eher böse als gute Absichten zu unterstellen bereit gewesen war, nämlich fast jeden Tag, immer sah er kurz zu ihr, mitunter verfinsterte sich seine Miene, so dass sie sich hilfesuchend umsah, aber nie passierte etwas, bis er ihr, nach ein paar Tagen, freundlich zuwinkte, was sie beim dritten Mal zögerlich mit einer entsprechenden Geste beantwortete. In der zweiten Woche setzte er sich kurz zu ihr und sprach ein paar Worte mit ihr, was er dann mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder tat. Seine Worte waren gar nicht böse und er hatte eine angenehme Stimme, aber mit Männerstimmen hatte Martha wenig Erfahrung. Und je näher Martha den grimmigen Läufer kennenlernte, desto mehr entzauberte der sich und war dem Kind ein netter Gesprächspartner und Zeitvertreiber. Doch auch er bekam etwas von Martha, ohne es allerdings zunächst zu merken.
Martha hatte nicht das zweite Gesicht, sie war nicht übernatürlich begabt, oder so etwas. Sie war allerdings sehr intelligent, und sie war sehr interessiert an anderen Menschen, was jedoch nicht mit einer Neugier, die manchmal als unangenehm empfunden wird, verwechselt werden sollte. Ihr reichte es schon, sich mit anderen zu unterhalten, und schon vermochte sie sich ein Bild zu machen, obwohl sie erst fünf Jahre alt war. Später sollte sie diese Gabe durch ein einschlägiges Studium auch auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.
Nachdem Martha nun ihren ersten Schrecken überwunden hatte, begann sie, die Gespräche mit dem fremden Mann zu genießen, denn jedes von ihnen brachte ihr Roger Wulvsen, allerdings auf verschlungenen Umwegen, näher, obwohl ihre Themen von eher kindlicher Belanglosigkeit zunächst waren.
Ihr Interesse an ihm war schon gerade deshalb geweckt, weil er ihr zunächst einen Schrecken eingejagt hatte, als sie ihn die ersten Male gesehen hatte und weil er sich später in ihren Gesprächen als nett und einfühlsam präsentierte. Und daher legten die ersten Treffen bereits Martha den Gedanken nahe, dass es sich bei dem Fremden um eine - Martha hätte dies damals anders formuliert, denn ihr Wortschatz war der eines Kindes – mindestens ambivalente Persönlichkeit handelte, obwohl sie Themen wie zum Beispiel Charaktereigenschaften überhaupt nicht ansprachen und auch Wulvsen hierzu einem Kind gegenüber überhaupt keine Veranlassung sah, das sollte erst später kommen.
Die abendliche Auseinandersetzung mit seinem Freund hatte Wulvsen nicht kalt gelassen, aber dabei ging es ihm weniger um die von Jürgen betreuten Menschen, sondern um dessen Ansatz. Es war auch nicht die erste derartige Auseinandersetzung gewesen, sie hatten eben zu manchen Themen unterschiedliche Auffassungen. Aus diesem Grunde vertieften sie diese Themen bei ihren Zusammenkünften in der Regel auch nicht, aber eben manchmal schon, und dann machten sie sich gegenseitig ihre Standpunkte klar. Da beide keine missionarischen Eiferer waren, hinterließen diese Auseinandersetzungen keine bleibenden Schäden, so dass sie sich danach noch immer in die Augen schauen konnten, dennoch sah sich Wulvsen bemüßigt, seinem Freund seinen Standpunkt noch einmal schriftlich nahezubringen, ohne damit eine Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verbinden, denn dazu sah er keinerlei Veranlassung.
Wulvsen setzte sich also an seinen heimischen Schreibtisch, zog einen Bogen Briefpapier aus einer Schublade, denn er wollte dem Freund handschriftliche Mitteilungen machen, nahm einen teuren Füllfederhalter und begann schwungvoll, Buchstaben zu Wörtern und Worte zu Sätzen zusammenzufügen, die insgesamt einen inhaltsreichen Text ergaben.
Er warnte Jürgen ausführlich vor den Gefahren der Sozialromantik, Schwerpunkt Romantik, und bot zum Schluss beiläufig an, mal darüber nachdenken zu wollen, ob er nicht in Zukunft darüber nachdenken könnte, Jürgens Projekte zu unterstützen, die dann aber strengstens subsidiär angelegt sein müssten.
Wulvsen ahnte nicht, wie bald und wie sehr er in solche Projekte verstrickt werden sollte.
Mit einem Image ist es so eine Sache. Ein Image kann etwas Zutreffendes über einen Menschen aussagen, oder den Menschen verzerren. Ein Mensch kann wesentlich selbst zu der Ausgestaltung seines Images beitragen oder es seinen Mitmenschen überlassen, sich ein solches Bild zu machen. Auf jeden Fall muss ein Image nicht in jedem Fall mit der Realität übereinstimmen, muss nicht alle Facetten eines Menschen berücksichtigen; es kann vorurteilsbehaftet sein, es kann schönfärberisch sein, es kann diskreditieren, es kann überhöhen. Kurz: der Übereinstimmungsgrad eines Image mit dem ihm zugrundeliegenden realen Charakter kann höher oder niedriger sein.
Bei Roger Wulvsen war dieser Grad sehr hoch.
Er galt als durchsetzungsstark bis zur Brutalität.
Er galt als streng bis zur Menschenverachtung.
Seine strategischen Schachzüge hatten manchmal etwas Intrigantes.
Seine Unfreundlichkeit nannten manche Verachtung.
Sein Beharrungsvermögen Sturheit.
Seine Ausdauer maschinenhaft.
Seine Ahnungen Hexerei.
Seine Entscheidungen genial.
Seine Kompromisslosigkeit autistisch.
Seine Umgangsformen rücksichtslos.
Seine Launen cholerisch.
Seine Art der Unternehmensführung rüpelhaft zu nennen, wäre keine Übertreibung gewesen.
Roger Wulvsen wusste das alles, und er fand, dass es hinreichend passte, ihn zu charakterisieren. Er war nämlich tatsächlich so, und er dachte gar nicht daran, etwas daran zu ändern, denn sein Erfolg bestätigte ihm jeden Tag, dass er richtig handelte, und er wusste, dass er gewissen Prinzipien folgte, und Ungerechtigkeit konnte man ihm schwerlich vorwerfen, was ihm überaus bewusst war. Den Vorwurf, ein Misanthrop zu sein, hätte Wulvsen energisch und weit von sich gewiesen.
Ein enorm wichtiger Aspekt, den er selbst nur zu gern verdrängte und an den er nach der ersten Zeit des Erfolgs schon gar nicht mehr dachte, spielte nämlich bei einer solchen Betrachtungsweise, die er sich sehr gerne zu eigen machte, keine Rolle. Dieser Aspekt war der, dass nämlich, als der Erfolg sich einstellte, und Wulvsen auch deshalb seine Verhaltensmuster, denen er eine entscheidende Rolle in seiner Erfolgsgeschichte zuzumessen bereit war, für nicht überdenkenswert hielt, jeglicher Widerspruch langsam aber sicher erstarb. Zunächst in der Firma, dann aber auch darüber hinaus, in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft, verstummten die, die zu widersprechen anfangs gewagt hatten, dann entweder durch sein robustes Verhalten oder die Tatsache, dass er fast immer Recht behielt, seinen unbedingten Erfolg, oder wegen all dieser Dinge zusammen, entweder resignierten, oder aufgaben, oder einfach begannen, ihn zu bewundern. Seine leitenden Angestellten funktionierten, sie erfüllten die ihnen übertragenen Aufgaben, was wiederum dem Erfolg des Konzerns nicht abträglich war, und das war die Hauptsache. Punktum. Widerspruch wagten sie nicht, was aber den Bilanzen nicht schadete.
Ihm fehlte also, beruflich wie privat, das Korrektiv, wenn man von gelegentlichem Widerspruch seines Freundes Jürgen und seiner Sekretärin einmal absah; darüber hinaus hatte er schließlich kaum noch ähnlich tiefe soziale СКАЧАТЬ