Tanja liest. Reiner W. Netthöfel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Tanja liest - Reiner W. Netthöfel страница 4

Название: Tanja liest

Автор: Reiner W. Netthöfel

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783741847974

isbn:

СКАЧАТЬ das kann jeder wissen, der sich auf ihn einlässt; seine Arbeitsverträge sprechen eine deutliche Sprache.

      Vielleicht braucht es einen solchen Charakter, um das zu leisten, was Wulvsen geschafft hat, und das ist ja durchaus anerkennenswert.

      Aus ein paar Familienbetrieben innerhalb weniger Jahre und nahezu ohne Fremdkapital einen Weltkonzern geschmiedet zu haben, ist ohne Beispiel.

      Wir erinnern uns an Entscheidungen von ihm, von denen wir alle annahmen, dass sie das Ende von Wulvsen Industries bedeuteten. Sie haben sämtlich letztlich nur zur Prosperität des Unternehmens beigetragen.

      Wir kommen nicht an Wulvsen vorbei, und damit meine ich nicht nur seine Produkte. Er versteckt sich ja nicht. Er ist zu Gast auf Empfängen, bei Politikern und in den Medien, das aber seltener. Ob er bei den Politikern immer ein gern gesehener Gast ist, kann bezweifelt werden, denn er ist ihnen ja nur zu oft unbequem.

      Roger Wulvsen ist also ein erfolgreicher und mächtiger Unternehmer, der sein Unternehmen, um es euphemistisch auszudrücken, mit harter Hand führt.

      Doch kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: wer ist der Privatmann Roger Wulvsen?

      Um einen bekannten Literaturkritiker zu bemühen: wir wissen es nicht. Jedenfalls fast nicht.

      Bis zu seinem Eintritt ins Geschäftsleben finden sich hier und da Spuren des Menschen Roger Wulvsen. Wir finden sein Bild in einer Festschrift seines Abiturjahrgangs, seine Dissertation findet sich in wissenschaftlichen Bibliotheken und als Restexemplare auch noch im Buchhandel. Eine Menge Freunde scheint er jedoch auch als Schüler und Student schon nicht gehabt zu haben, jedenfalls bekennt sich niemand dazu.

      Festzustehen scheint, dass mit seinem Namen weder Stiftungen noch Vereine in Verbindung gebracht werden können, Veranstaltungen, die dem Amusement oder der Kultur dienen, soll er für Zeitvergeudung halten, sein Leben führt er eher bescheiden, denn er protzt nicht mit auffälligen Immobilien, Yachten oder dergleichen mehr, obwohl er das durchaus könnte.

      Alles weitere ist reine Spekulation.

      Es ist anzunehmen, dass er nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Seine sexuellen Präferenzen sind unbekannt. Die in die Redaktionskonferenz gestellte Mutmaßung, dass die Firma sein Hobby sei, blieb unwidersprochen. Unwidersprochen blieb auch die gar nicht mal flapsig gemeinte Bemerkung, er ginge zum Lachen in seinen Keller. Über seinen Gesundheitszustand gibt es noch nicht einmal Gerüchte.

      Das Einzige, was als fast gesicherte Erkenntnis gelten kann, ist, dass er gerne gut isst.

      Doch das beantwortet die Frage nicht:

      Wer ist Roger Wulvsen?

      Wulvsen ließ die Zeitung sinken. In seinem Kopf spielte sich nun dreierlei ab:

      Zufriedenheit darüber, dass eine Frage nicht hatte abschließend beantwortet werden können.

      Unzufriedenheit darüber, dass der Artikel keinen Anlass für juristische Schritte seinerseits bot. Und Schadenfreude über die Unfähigkeit von Journalisten.

      Das mit den juristischen Schritten würde er allerdings prüfen lassen.

      Die Frau wurde von ihrem Wecker geweckt, worüber sie sehr froh war, denn die Nächte endeten für sie, seit das Kind bei ihr war, nicht mehr so oft mit einem Albtraum. Sie träumte zwar noch diesen schrecklichen Traum, aber es war längst nicht mehr so schlimm wie vorher, vorbei waren die Schreie und die Tränen. Sie ging im Traum einfach souveräner mit den Vorhaltungen der Lehrerin um und das heißt, dass sie sie zunehmend einfach ignorierte. Das Kind schlief noch in seinem Bettchen und die Frau streichelte zärtlich über sein Köpfchen. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Kleine maßgeblich damit zu tun hatte, dass sie die Vergangenheit langsam, aber sicher in den Griff bekam; zumindest nachts in ihren Träumen. Möglicherweise lag das an der Erziehungsverantwortung, die ihr zugefallen war, aber sie fand, dass es das nicht alleine war; für sie hing das mit dem Charakter des Kleinkindes zusammen, so seltsam sie das auch finden mochte. Vielleicht würde sie ihr Trauma eines Tages sogar ganz überwinden können. Und vielleicht würde sie sogar dessen eigentliche Ursache beseitigen können. Bei der allmählichen Überwindung des Traumas war ihr ihre Nichte schon jetzt eine unbewusste Hilfe, das wollte sie glauben. Was die Ursachenbeseitigung anlangte, würde das Mädchen in nächster Zeit jedoch keine Hilfe sein können, dafür war es noch zu jung.

      Der Ärger eines ereignisreichen Arbeitstages, an dem er seinen südamerikanischen Leitern erst ihre Bilanzen und dann die Leviten gelesen hatte, der eine unschöne, aber für ihn erfolgreiche Konfrontation mit dem niederländischen Wirtschaftsminister mit sich gebracht hatte, und der konsternierte bis zitternde Abteilungsleiter nach der morgendlichen Lage hinterlassen hatte, musste heraus, und so schlüpfte Wulvsen, sobald er zu Hause war, in seine Laufsachen und lief los. Seine Runde führte ihn an einem Kinderspielplatz vorbei, der menschenleer war, bis auf ein kleines Mädchen mit dunklem, lockigem Haar, das konzentriert etwas im Sand eines Sandplatzes baute. Komisch, dachte Wulvsen, keine Aufsicht weit und breit. Er schüttelte den Kopf über die Nachlässigkeit mancher Eltern, warf dem Kind noch einen letzten Blick zu, erinnerte sich, dass er es schon einmal gesehen hatte und lief seines Weges.

      Dass die Zeit der Routine bald der Vergangenheit angehören würde, deutete sich Wulvsen am nächsten Morgen zart an, denn beim Zähneputzen rekapitulierte er, dass er seit seinem gestrigen Lauf das Bild des einsamen Mädchens einfach nicht mehr aus seinem Kopf bekam.

      Dass seine Gedanken sich verselbständigten, kam so gut wie gar nicht vor, und er glaubte, selbst sein Unterbewusstsein gut im Griff zu haben, so dass das Ergebnis seiner morgendlichen Rekapitulation ihn zu Gegenmaßnahmen im Normalfall veranlasst hätten, und die hätten seinen Denkapparat betroffen. Doch diesmal fasste er einen anderen, und wie sich im Verlauf zeigen sollte, viel weitergehenden Entschluss, und das hatte damit zu tun, dass sich zu dem Bild des einsamen, gelockten Mädchens eines aus seiner eigenen Vergangenheit zuweilen gesellte, das Bild nämlich eines weinenden Mädchens, das lange, glatte schwarze Haare hatte.

      Die Klassenlehrerin verteilte die Arbeiten. Die anfängliche Stille im Klassenraum wich immer mehr einem allgemeinen Geraune, je mehr der kleinen Hefte an die Schüler verteilt wurden. Obwohl Roger Wulvsen sein Heft bereits erhalten hatte, legte die Lehrerin zum Schluss noch ein weiteres Heft vor ihn auf den Tisch. ‚Tanja Kiel‘ stand in ungelenken Lettern auf dem Etikett.

      „Lies uns doch einmal Tanjas Aufsatz vor, Roger.“, forderte die Lehrerin ihren besten Schüler auf und grinste hämisch. Roger schlug das Heft auf und erschrak. Wie sollte er das vorlesen? Groß- und Kleinbuchstaben schienen wahllos aneinandergereiht und teilweise verkehrt herum geschrieben. Manche Buchstabenfolge ergab gar keinen Sinn, Sätze waren kaum zu erkennen. ‚Chinesisch‘ nannten sie das.

      Schweißgebadet und mit hochrotem Kopf beendete Roger seine Lesung unter dem Gejohle der Klasse. Außer der Unleserlichkeit dessen, was da auf dem Papier stand, hatte das Gefeixe und das Gelächter, in das er schließlich befreit einfiel, dazu geführt, dass er am Ende kaum noch lesen konnte. Frau Steyer nickte zufrieden, was soviel bedeuten sollte, dass dies ein schlechtes Beispiel für einen Aufsatz war, ein ganz schlechtes, dem nachzueifern sie dringend abriet.

      Ein Mädchen hatte den Kopf in den auf dem Tisch liegenden Armen vergraben und weinte bitterlich.

      Nicht viel anders war es, wenn es darum ging, aus dem Lesebuch vorzulesen. Die Lehrerin wusste, wie sie die Stimmung heben konnte.

      „So, nun zu den Hausaufgaben. Ihr solltet die Geschichte auf Seite 8 lesen. Wer möchte vorlesen?“ Einige Kinder meldeten sich heftig. СКАЧАТЬ