Название: Tanja liest
Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783741847974
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Der Kopfmensch Wulvsen fand das alles in Ordnung, und nach seiner Auffassung hätte das auch so weiter gehen können. Doch selbst die souveränsten Machtmenschen sind nicht immer in der Lage, alle Geschehnisse zu steuern. Manchmal merkt selbst diese Spezies nicht, dass ihr Dinge entgleiten, die sie voll im Griff zu haben wähnen.
Dass er von manchen für einen Unmenschen gehalten wurde, störte ihn zunächst nicht, dann aber, ab einem gewissen Zeitpunkt, schleichend und von ihm selbst fast unbemerkt, immer mehr, so dass er Kompensation darin suchte, zunächst heimlich etwas zu tun, was gemeinhin Gutes genannt wird, und daran war ein kleines Mädchen nicht ganz unschuldig.
Roger Wulvsen jedenfalls merkte es nicht, und als er es merkte, war es bereits zu spät, aber das machte ihm dann nichts mehr aus.
„Rück mal, ich lege mich noch zu dir, bis du eingeschlafen bist.“ Martha machte Platz in dem für sie ohnehin zu großen Bett und Tanja legte sich neben sie. Tanja wusste, dass sie mit ihrer Nichte recht komplizierte Sachverhalte besprechen konnte; Sachverhalte, die selbst für Erwachsene nicht leicht zu durchdringen waren. Martha war zwar erst fünf, aber bei den Elternabenden der Tagesstätte hatten ihr die Erzieherinnen immer wieder versichert, wie intelligent Martha wäre. Und darüber hinaus, wie eine sich mal ausgedrückt hatte. Tanja wusste das. Sie wusste um die Intelligenz ihrer Nichte und sie wusste um das ‚darüber hinaus‘. Martha hatte manchmal etwas Magisches. Den gut gemeinten Rat, Martha auch zu Hause zu fördern, hatte sie schweigend und mit einem Lächeln entgegengenommen, hatte dann versichert, alles zu tun, was sie könnte. Aber das war eben nicht das Optimale. Bei weitem nicht.
Martha schmiegte sich an ihre Tante.
„Schade, dass du mir nicht vorlesen kannst.“
„Du wirst bald selbst lesen lernen, in der Schule. Ab dem nächsten Jahr.“, sah Tanja in die Zukunft.
„Schon, dann kann ich dir vorlesen.“, schlug Martha vor.
Die Zeiten, in denen sie sich geschämt hatte, Ausreden erfunden hatte, weil sie ihrer Nichte nicht vorlesen konnte, waren vorüber, was fast ausschließlich der Intelligenz und dem Einfühlungsvermögen Marthas zuzuschreiben war. Es waren bittere Momente gewesen, aber eines Tages hatte Martha gesagt: „Ich verstehe schon. Du musst nicht immer traurig sein deswegen.“ Und hatte sich an sie gekuschelt.
„Ja, so machen wir es.“ Eine Weile schwiegen sie. Dann meinte Martha:
„Du hast doch was.“ Tanja sah an die Zimmerdecke, dann auf ihre Hände, die auf der Bettdecke lagen.
„Ich muss eine neue Arbeitsstelle annehmen.“, nuschelte sie.
„Warum?“
„Mit den paar Stunden Putzen verdiene ich nicht genug; entweder brauche ich eine mit einer längeren Arbeitszeit, oder ich muss zwei Stellen annehmen. Ich wäre dann häufiger und länger weg.“
„Hm. Wenn es sein muss. Hast du denn schon eine neue Stelle?“
„Bin noch auf der Suche. - Das beste wäre, wenn ich jeden Tag arbeiten könnte, vielleicht auch abends.“
„Auch Samstag und Sonntag und Ostern und Weihnachten?“, fragte Martha erschrocken.
„Nein.“, lachte Tanja. „Montags bis freitags, vielleicht auch mal samstags für ein paar Stunden.“
„Dann würde das Geld reichen?“
„Es wäre knapp, aber es würde reichen, ja. Ich habe alles durchgerechnet.“ Martha schmunzelte zufrieden, denn rechnen konnte ihre Tante, das wusste sie. Tante Tanja brachte ihr seit einiger Zeit Rechnen bei, so dass sie im Kindergarten hohes Lob erfuhr, wenn es darum ging, spielerisch mathematische Aufgaben zu bearbeiten. Was Martha aber nicht wissen konnte, war, dass Tanja manchmal nicht ganz die Wahrheit sagte. Aber nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus einer Not. Denn Tanjas Putzjob war ihr alles andere als sicher und die Stellensuche gestaltete sich mehr als schwierig, und das hatte beides mit ihrem Handicap zu tun, denn schließlich konnte sie nicht von Tür zu Tür gehen und nach Putzstellen fragen.
„Wie lange hast du noch?“, fragte ihr Mann verschlafen. Rehbein sah ihren Herbert, der im Schlafanzug in der kleinen Küche stand, mitleidig an. Er war schon seit einem Jahr Rentner, stand aber immer noch mit ihr auf. Elke Rehbein schloss die Dose mit den Broten für den Alten. Einmal Käse, einmal Hartwurst, Streichmettwurst und Schokolade, wie fast immer. Manchmal variierte sie aber auch. Damit käme er in der Regel bis zum Abend hin.
Rehbein schmierte ihm Brote, seit er die Firma übernommen hatte, da waren mütterliche Instinkte durchgekommen, denn in den ersten Tagen war es vorgekommen, dass er bis Feierabend überhaupt nichts gegessen hatte, und so etwas konnte sie nun gar nicht mit ansehen. Sie würde der Neuen sagen müssen, dass er Kaffee verabscheute.
„Heute kommen meine Nachfolgekandidaten. In sechs Wochen dürfte ich die Dame eingearbeitet haben, dann ist Schluss. Sechs Wochen allerdings nur, wenn er sie in Ruhe lässt. Dagegen aber spricht die Erfahrung.“ Herbert kratzte sich am Kopf, nahm sie kurz in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Hast wohl recht. Die wird Monate brauchen, um sich an das raue Klima zu gewöhnen, wenn sie es denn je schafft.“ Elke Rehbein seufzte und wendete sich wieder der Kaffeemaschine zu und konnte natürlich nicht wissen, dass es etwas anders kommen würde, als sie sich das dachte.
Ella Olsson, Anfang zwanzig, intelligent, strebsam und aus Schweden, fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand durch die widerspenstigen rotblonden Locken, während sie in den kleinen Spiegel in dem winzigen Bad des schuhkartongroßen Zimmers im Gästehaus des Konzerns schaute. Die Locken waren nicht zu bändigen, nur eine Kurzhaarfrisur könnte Abhilfe schaffen, gefiel ihr aber nicht. Sie hatte weder die Augenbrauen nachgemalt, noch ihre Wimpern verklebt; auch würde sie keinen Lippenstift benutzen oder gar Rouge auflegen. Sie sollten sie sehen, wie sie war, und dazu gehörte eine bequeme Hose und ein Pulli, kein Rock, kein Kleid, keine Bluse. Ihr einziges Zugeständnis war ein Jackett. Wenn sie mich nicht nehmen, dann nicht, dachte sie. Ich verbiege mich nicht. Sie verließ das Bad und zog sich ihre weichen, bequemen Wildlederschuhe an. Auch Pumps kamen nicht in Frage.
Ella Olsson hatte sich diesen Schritt wohl überlegt. Es wäre an der Zeit, mal aus Skandinavien herauszukommen, diese Länder kannte sie gut genug. Sie war zwar in ihrem jungen Leben schon verhältnismäßig viel gereist, doch beruflich war sie irgendwie in Schweden hängengeblieben, und bei Wulvsen. Wulvsen Industries, dachte sie, eigentlich ist das eine etwas irreführende Bezeichnung, denn Wulvsen bestand schon lange nicht mehr nur aus Industrie. Die schwedische Niederlassung war noch ziemlich jung gewesen, wie sie selbst, als sie damals dort anfing, und dann war allen fast schwindlig geworden, als weitere Niederlassungen, Werke, Zentralen in den nordischen Ländern wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber nicht nur dort. Ella sah ihre Chance, quasi in der Mitte dieses weltweiten Spinnennetzes zu arbeiten, in der Zentrale der Zentralen, am Puls des Konzerns СКАЧАТЬ