Tanja liest. Reiner W. Netthöfel
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Название: Tanja liest

Автор: Reiner W. Netthöfel

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783741847974

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СКАЧАТЬ das sich jetzt wünschte, nicht anwesend zu sein. „Tanja wird uns vorlesen.“

      Nach fünf Minuten grölte die Klasse und das Mädchen weinte hemmungslos.

      Er hasste diesen kleinen Wichtigtuer, diesen Studiendirektor, der sich dazu berufen fühlte, zukünftige Lehrer auszubilden, und in seinen Seminaren nichts anderes tat, als Fachliteratur zu referieren und bei Unterrichtsbesuchen es nicht wagte, den jeweiligen Schulleitern in die Augen zu sehen. Doch nun wurde es interessant.

      Der kleine Studiendirektor war ernst geworden und sah eindringlich in sein Auditorium.

      „Niemals, meine Damen und Herren, niemals dürfen Sie eine Schwäche eines Schülers vor der Klasse öffentlich machen. Niemals. Sie dürfen niemals einen Schüler bloßstellen. Vor allem nicht vor seinen Mitschülern. Sie glauben gar nicht, was Sie damit anrichten können.“

      Eine Hand flog in die Höhe.

      „Ja bitte, Herr Doktor Wulvsen.“ Der kleine Studiendirektor wurde noch ein wenig kleiner, denn er hatte hohen Respekt vor dem Fabrikantensohn mit dem Doktortitel und das lag im wesentlichen an diesem Titel, aber auch an dem an Arroganz grenzenden Selbstbewusstsein des Doktors.

      „Seit wann ist das pädagogische Erkenntnis?“, lautete die knappe Anschlussfrage. Der Studiendirektor sammelte sich kurz.

      „Seit Comenius dürfte das einhellige Meinung sein. Zumindest in der pädagogischen Lehre und Forschung. Das können Sie bei Muth nachlesen.“ Der Kursteilnehmer nickte. „Gibt es einen besonderen Grund für Ihre Frage, Herr Doktor Wulvsen?“, wagte der Kursleiter eine Frage.

      „Nein.“, behauptete der Doktor.

      Erst sehr viel später, und zwar während seiner Ausbildung, wurde ihm also wirklich bewusst, hatte er aus berufenem Munde gehört, was er getan hatte; wobei er mitgewirkt hatte, und dass das steyersche ein ganz übles Beispiel für missverstandene Pädagogik gewesen war, und er fühlte sich schuldig, eine Rolle dabei gespielt zu haben, und dazu noch keine löbliche. Doch was hätte er tun sollen mit seinen acht, neun Jahren? Hätte er sich geweigert, hätte jemand anderes gelesen und die Schmach wäre für Tanja die gleiche gewesen. Das Einzige, was er machen könnte, wäre, sich bei Tanja zu entschuldigen. Irgendwann. Das würde sein Gewissen beruhigen und ihr vielleicht ein wenig Mut zurückgeben, den sie in diesen Augenblicken damals scheibchenweise verlor. Aber dafür müsste er sie erst einmal finden und treffen.

      Roger Wulvsen war kein geborener Unternehmer. Zunächst aus kindlichem Desinteresse, und dann aus Gründen jugendlicher Opposition hatte er sich für die elterliche Firma nicht interessiert. Er liebte die Literatur und interessierte sich für gesellschaftliche Zusammenhänge, die, das erkannte er bald, von wirtschaftlicher Tätigkeit nicht nur wesentlich mitgeprägt werden, sondern deren materielle Grundlage diese ist. Diese Interessen führten dazu, dass er seine akademische Ausbildung in Fakultäten absolvierte, in denen Fabrikantenkinder eher selten anzutreffen waren, was seine Integration in gewisse Kreise, denen er sich zunächst gerne zurechnen wollte, nicht einfach machte. Die Vorbehalte der anderen gegenüber seiner Herkunft indes führten bei Roger Wulvsen nicht zu bestimmten Anpassungsprozessen, sondern dazu, dass er, aus einer Art Metasicht, diese Kreise einer genaueren Beobachtung schon bald unterzog. Das Ergebnis war, dass er zwar prinzipiell weiterhin deren Ziele für erstrebenswert hielt, nicht jedoch die vorgeschlagenen Wege dorthin, und die Erkenntnis, dass es eine ganze Menge Menschen in diesen Kreisen gab, die eher wenig authentisch diese Ziele vertraten.

      Er jedenfalls nahm sich vor, diese von ihm für prinzipiell erstrebenswert gehaltenen Ziele in dem von ihm für den einzig vernünftig befundenen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Rahmen, und das wäre der aktuelle und über viele Jahrzehnte bewährte, nicht aus den Augen zu verlieren und, wenn möglich, auch umzusetzen, und dabei möglichst authentisch zu bleiben. Zu dieser Zeit konnte er noch nicht wissen, dass ihm dies auch zu großen Teilen gelingen, er selbst jedoch den Blick hierauf zunächst wesentlich verstellen sollte.

      Zum Ende seines Studiums war er also sozial und politisch ein Heimatloser, was jedoch durch ein tragisches Familienunglück sich ändern sollte.

      Durch jene Tragödie nämlich fiel dem jungen Mann von heute auf morgen Verantwortung zu.

      Und Macht.

      Er musste aus dem Stand sich nicht nur um das mittelständische Unternehmen der Eltern kümmern, sondern ebenfalls noch um die ähnlich großen einiger Verwandter, die auch durch das Unglück betroffen worden waren, und bewies dabei soviel Geschick, dass er innerhalb weniger Jahre hieraus einen internationalen Konzern geschmiedet hatte, dem nichts anderes als Erfolg die Zukunft versprach.

      Ob es die familiäre Tragödie, die unerwartet auf ihn zugefallene Herausforderung, die neue gesellschaftliche Stellung, seine bis dahin nicht erfolgte Festlegung der eigenen Verortung in dem sozialen Gefüge, die eigene Bindungslosigkeit, oder alles zusammen und einiges mehr waren, was seinen Charakter in jener Zeit prägte, kann für das weitere Geschehen als nicht erheblich genug gelten, um hier weiter gründlich analysiert werden zu müssen.

      Fest steht, dass er als junger Mann, fast völlig auf sich allein gestellt, Aufgaben zu bewältigen hatte, an die er zuvor nicht einmal im Traum gedacht hatte und er es mit Menschen zu tun bekam, die er vorher bestenfalls namentlich kannte.

      Jedenfalls entschied er sich, sei es aus Selbstschutz, Unsicherheit oder unbedingtem Erfolgswillen, seinen Weg mit einer gewissen Unnachgiebigkeit zu gehen, was ihm nicht immer Freude oder Freunde machte, die er aber, aufgrund fehlender früherer Festlegungen, ohnehin, mit einer späten Ausnahme, nicht hatte; allerdings fehlten sie ihm auch nicht.

      Diese Haltung erfuhr positive Verstärkung durch den Erfolg, den er zunehmend hatte, und der dazu führte, dass nicht nur er selbst sein Handeln als richtig und zielführend empfand, sondern der auch seine Umgebung veranlasste, über manches an seinem Verhalten hinwegzusehen. Die, die das nicht taten, spielten bald keine Rolle mehr, und nach einer Weile war es dann eindeutig zu spät, daran etwas zu ändern.

      Doch es wäre weit gefehlt zu meinen, er spielte eine Rolle in dem Sinne, dass er den unerbittlichen und unnahbaren Unternehmer nur gab. Er musste nichts spielen.

      Ihm war durchaus bewusst, dass sein Regiment mit früheren Verhaltensidealen wenig zu tun hatte, aber er glaubte, und das mit einigem Recht, dass er ein gerechtes Regiment führte, wobei mancher Betroffene hierzu sicher eine andere Meinung hatte.

      Roger Wulvsen, der ehedem Heimatlose, hatte sich selbst eine Heimat geschaffen, eine eigene Welt sozusagen, und die war durchaus in der Lage, der übrigen Welt, der Welt der anderen also, ihren Stempel gehörig aufzudrücken.

      Auf jeden Fall setzte er in seinem Imperium um, was er nach wie vor für richtig hielt, nämlich dass jedem Menschen eine Chance zustehe, die dann aber in eigener Verantwortung und unter Respektierung der anderen zu nutzen sei. Dass er hierbei förderte, war allerdings selten offensichtlich, weil er mit seiner Art der Förderung auch immer eine Forderung verband, da diese beiden Aspekte seiner Meinung nach unbedingt zusammengehörten, denn sein Fordern war durchaus dominant und wurde entsprechend wahrgenommen, so dass der andere Aspekt scheinbar bestenfalls ein Schattendasein führte. Hierbei spielte sicherlich sein Charakter eine Rolle, und der verbat es ihm einfach, sein förderndes Engagement zu kommunizieren, weil er auf Lob durchaus verzichten konnte. Doch diese Klandestinie sollte aufgrund späterer, zunächst zaghafter, dann intensiverer sozialer und zwischenmenschlicher Kontakte von ihm nicht aufrecht erhalten werden können.

      Martha verabschiedete sich von den Erzieherinnen und ihren kleinen Freunden und Freundinnen, dann setzte sie sich vor dem Kindergarten auf eine Bank. Ihre Tante СКАЧАТЬ