Im Bannkreis er Erinnerung. Stefan Raile
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Название: Im Bannkreis er Erinnerung

Автор: Stefan Raile

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742720122

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СКАЧАТЬ betrifft, genügen sie nicht immer, um helfen zu können, wie ich bei deinem Großvater gesehen habe.“

      „Was meinst du?“, fragte ich, und mir war, als sähe ich den grauhaarigen, im trüben Werkstattlicht stets verschwommenen Mann mit seinem gezwirbelten Schnurrbart, der mir von einem Foto vertraut war, an der hinteren, ungenutzten Hobelbank hantieren.

      „Nach vier Jahren gefahrvollem Krieg, die er körperlich unversehrt an vorderster Front durchgestanden hatte, war er nicht mehr der Gleiche“, hörte ich den alten Klock sagen. „Sein Blick erinnerte mich wiederholt an den mancher Katzen, die zu mir gebracht wurden. Wenn wir an heißen Sonntagen, sobald die größte Glut vorbei war, auf meinem Hof unterm Kirschbaum saßen und mit andren Männern Karten spielten, schien er mit den Gedanken weit weg zu sein, und seine Augen, die früher so lebenslustig gefunkelt hatten, wirkten stumpf wie Asche.“

      „Warum?“

      „Er hatte zwar noch seine heilen Glieder, aber eine verwundete Seele wie die Katzen, die meinen Beistand brauchten. Ich glaube, er wurde nicht fertig damit, dass die Salven aus seinem Maschinengewehr zahlreiche Gegner, die so schuldlos am Krieg waren wie er, getötet, verstümmelt oder schwer verwundet hatten, seine zwei Gehilfen, mit denen er, um den Rückzug ihrer Truppe zu decken, einen Frontabschnitt halten musste, bei einem überraschenden Gasangriff umkamen, weil sie die Masken nicht schnell genug aufsetzten. Du hast sicher mal davon gehört.“

      „Öfter.“

      „So gern ich auch ihm geholfen hätte, reichten meine Fähigkeiten, die bei Tieren wirken, nicht aus, sein krankes Gemüt zu besänftigen, weil unser Herrgott die Macht der Sterblichen begrenzt, damit sie keine Entscheidungen fällen können, die seinem unergründlichen Willen vorbehalten bleiben. Dennoch hätte deine Großmutter es vielleicht geschafft, seinen Zustand zu bessern, wenn sie noch geduldiger und einfühlsamer gewesen wäre. Vielleicht sogar du, falls du etliche Jahre früher zur Welt gekommen wärst. Dann hätte dein Großvater nämlich eine neue Aufgabe gehabt, durch die er möglicherweise erfolgreich abgelenkt worden wäre. Oder hältst du’s für abwegig?“

      „Keineswegs.“

      „Andrerseits gibt’s in diesem empfindsamen Bereich, der mir bei vielen Menschen unergründlich erscheint, keinerlei Gewähr, wie die Mauer erzählen könnte, auf der ich sitze.“

      Ich sah ihn, da er eine Pause einlegte und die Katze auf seinem Schoß zärtlicher als bisher streichelte, erwartungsvoll an.

      „Manche“, sagte er, „kommen selbst dann nicht zurecht, wenn sie scheinbar das große Los gezogen haben. So erging’s den Telepes, die uns aus dem Haus trieben. Sie wähnten sich, glaube ich, zunächst wie im Schlaraffenland und meinten, die Vorräte in Speisekammer, Keller und Gori würden sich nie aufbrauchen. Doch da sie viel aßen, noch mehr tranken und wenig arbeiteten, geschah es verhältnismäßig schnell. Statt Garten und Felder zu bestellen, um später etwas fechsen zu können, das sie, wie vorher uns, mühelos ernährt hätte, verkauften sie nun alles, was nicht niet- und nagelfest war. Selbst die Dachziegel wurden von den Ställen gerissen und verscherbelt. Natürlich half ihnen auch das nicht lange, und so verschwanden sie eines Tages spurlos aus dem Dorf. In das ausgeplünderte, verwahrloste Gehöft, das sie zurückließen, wollte niemand mehr einziehen. Selbst ich lehnte ab, als es mir Jahre später gegen ein erkleckliches Sümmchen angeboten wurde. Doch in manchen Nächten kehre ich zurück, um den Tieren beizustehen, die, vom Leid ihrer Besitzer angesteckt, kläglich wie früher nach mir rufen.“

      Er flüsterte der Katze noch etwas ins Ohr, bevor er sie vom Schoß ließ. Während sie wenig später lautlos ins Dunkel sprang, verschwand er so unerwartet, wie er aufgetaucht war.

      Mich fröstelte, als ich erwachte. Erst nach einer Weile begriff ich, dass ich in kniehohem Unkraut lag. Über mir schwebte blassgelb der große, runde Mond am schiefergrauen, bestirnten Himmel und träufelte spärliches Licht auf den verlassenen Hof.

      PFERDEWECHSEL

      Solange ich auch zu der gezackten Ruinenwand starrte, die mal den Dachstuhl des Pferdestalls getragen hatte, ich konnte weder den alten Klock noch die auf seinem Schoß ruhig gewordene schwarzweiße Katze erblicken. Weil mir schließlich einfiel, dass er von innen gekommen und dorthin verschwunden war, erklomm ich, durch ausgebröckelten Mörtel entstandene Kerben zwischen den Ziegeln nutzend, das etwa zweieinhalb Meter hohe Mauerstück, von wo er sich mit mir unterhalten hatte. Oben angelangt, spürte ich, dass der bei Feri getrunkene Tresterbranntwein weiter bei mir wirkte. Verschwommen sah ich, dass sich in dem vom Mond spärlich erhellten Raum, der seinerzeit die beiden Rappen beherbergt hatte, nur ein mit Unkraut bewachsener Schutthügel wölbte. Doch in der rückwärtigen Wand bemerkte ich nahe dem Erdboden eine Öffnung, durch die ein schlanker Mensch schlüpfen konnte.

      Ohne zu zögern, kletterte ich hinab, stapfte taumlig über das lose Geröll und zwängte mich in die Lücke, hinter der ich unsren ehemaligen, nun stark veränderten Hof vermutete, über den mich die Frau aus dem Nachbarhaus nach meiner Ankunft geführt hatte. Aber ich stieß unerwartet auf einen niedrigen, mit Reet gedeckten Gebäudeteil und entdeckte das fast quadratische Fenster, das Vater, damit mehr Licht in die Stellmacherwerkstatt fiel, kurz nach Kriegsende hatte einbauen lassen.

      Ich öffnete die morschen, unverriegelten Flügel, schob meinen Kopf vor und beobachtete wie einst der kleine Junge, bei dem die Fantasie, durch Großmutters Erzählungen und etliche Fotos angeregt, übergeschäumt war, im trüben Schein der Petroleumlampe einen uralten, grauhaarigen Mann an der hinteren, meist ungenutzten Hobelbank. Er spannte, den mit einem dunkelblauen Hemd bekleideten Oberkörper stark gebeugt, ein schmales Vierkantholz zwischen die Bankhaken und begann, mit dem Schneidmesser eine Radspeiche zu formen. Sobald er sich aufrichtete, um zu verschnaufen, gewahrte er mich.

      „Tritt näher“, sagte er, und obwohl ich seine leise, ein wenig raue Stimme nie wirklich gehört hatte, wusste ich, dass Großvater mit mir sprach.

      Ich stieg durchs Fenster und ging über den aus Lehm gestampften, von Hobelspänen übersäten, Fußboden zielstrebig auf ihn zu. Doch er bedeutete mir, Abstand zu halten und drehte das Flämmchen der Petroleumlampe, die an einem Deckenhaken hing, so weit zurück, dass seine Gestalt fast ganz im Dunst versank wie in der fernen Zeit, als ich manchmal geglaubt hatte, er säße, während der Dämmer sein graues, spinnenfeines Netz um uns webte, neben Großmutter am Abendbrottisch. Nun trug er einen Schemel in die Werkstattmitte, rückte ihn über den delligen Untergrund, bis er nicht mehr kippelte, und nahm so darauf Platz, dass sein Gesicht im Dunkeln blieb. Während er mit der linken Hand sein dünnes, matt von hinten beleuchtetes Haar glattstrich, wies die Rechte zur Rundbank am Ofen, der bauchig in den Raum ragte. Sobald ich mich niederließ und anlehnte, erschien er mir heiß wie an den Tagen, als Mutter ihn von der Sommerküche aus angeheizt hatte, um Brot, Mohnkuchen oder Strudel zu backen.

      „Ich hab geahnt“, sagte Großvater, „dass wir uns eines Tages begegnen würden. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, wenn uns der Herrgott eher zusammengeführt hätte.“

      „Mir auch“, entgegnete ich und bemühte mich, seine Gesichtszüge zu erkennen, sah deutlich aber nur den blonden, gezwirbelten Schnurrbart, wie ich ihn von Großmutters vergilbten Bildern kannte.

      „Doch nun haben wir uns endlich getroffen und sitzen in der alten Werkstatt, die uns aus unterschiedlichen Zeiten vertraut ist. Wenn ich in meinen letzten Jahren“, fuhr er leiser fort, „an der Hobelbank hantierte, musste ich, da ich rasch ermüdete, häufig innehalten. Dann stützte ich mich auf die mit Sägemehl bestäubte Platte, blickte versonnen durchs Fenster und meinte, dass du, obwohl’s dich noch gar nicht gab, über den Hof tollst, die Hühner scheuchst, Aprikosen pflückst oder an einem Ast des СКАЧАТЬ