Im Bannkreis er Erinnerung. Stefan Raile
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Название: Im Bannkreis er Erinnerung

Автор: Stefan Raile

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742720122

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СКАЧАТЬ derweil sie Holztiere in die aus Bausteinen errichteten Ställe stellte, meine Zinnsoldaten zu Angriff oder Verteidigung gruppierte, schienen sie manchmal zu wachsen, und ich glaubte, sie lägen mannsgroß zwischen Büschen, knieten hinter Bäumen, stünden im Schützengraben. Der Soldat, der sein Gewehr im Anschlag hielt, hatte einen Schnurrbart, und sobald er, das linke Auge zugekniffen, mehrfach den Abzug betätigte, vernahm ich den Knall der Schüsse.

      „Hast du was von mir gewusst?“, hörte ich ihn fragen.

      „Viel.“

      „Durch Großmutter?“

      „Ja“, bestätigte ich und sagte, dass sie morgens, wenn ich, kaum erwacht, zu ihr ins Bett geschlichen sei, nach den Märchen von Frau Holle, Schneewittchen oder Rotkäppchen, an die ich mich besonders nachhaltig erinnere, fast immer von ihm erzählt habe.

      „Auch über das, was mir im Krieg widerfahren ist?“

      „Vor allem.“

      „Die Jahre, die ich an vorderster Front verbrachte, sind für mein Leben nachhaltiger als alle andren gewesen“, sagte er. Jene unauslöschlichen Geschehnisse, die ihn stärker als Geschosse, Kolbenhiebe oder Bajonettstiche verletzt hätten, seien tief in ihn gedrungen und später zu seinem Schicksal geworden, dem zu entgehen, so sehr er sich auch bemüht habe, nicht möglich gewesen sei.

      „Ich weiß“, erwiderte ich.

      Dabei sei er, als ihn das Vaterland nach den tödlichen Schüssen von Sarajevo unter die Fahne gerufen habe, unerschrocken in den scheinbar unausweichlichen Kampf gezogen, weil sich, wenn’s die Umstände erforderten, in jedem, der halbwegs Mumm in seinen Knochen habe, das Verlangen einstelle, der Gefahr mannhaft ins Auge zu blicken. Freilich habe er da noch nicht geahnt, was ihn erwarte. „Stattdessen“, redete er weiter, „erinnerte ich mich an meinen in Slawonien abgeleisteten Wehrdienst, der mich nie an körperliche oder seelische Grenzen geführt hatte. In der Rückschau erschien er mir wie ein reizvolles Spiel, in dem man sich beweisen konnte und den Kameraden zumindest ebenbürtig sein wollte; auch im Wirtshaus, wo wir, wenn Musik spielte, die anmutigsten Mädchen, die geduldig an der Wand warteten, zum Tanz aufs knarrende Parkett winkten, und mehr noch draußen, unter einer Akazie oder dem wuchtigen Maulbeerbaum, wo wir, weitab vom Petroleumlicht, das aus den Saalfenstern sickerte, ihre festen, erhitzten Körper in unsren Armen hielten.“

      „Das klingt, als seist du verblendet gewesen.“

      „War ich“, bestätigte er, „bis ich nach und nach begriff, dass sich nur wenig von dem, was ich mir ausgemalt hatte, mit der Wirklichkeit deckte. In dem Maße, wie die Unterschiede auseinander wichen, lösten sie ganz gegensätzliche Gefühle in mir aus. Sämtliche Landschaften, die ich im Laufe der Zeit kennenlernte, erfreuten mich, da sie meine Erwartungen bei weitem übertrafen: anfangs die schroffen, waldreichen Berge nahe der Drina, zuletzt die lieblichere Gegend rechts und links der Piave. Während ich das helle, wohltuende Licht wahrnahm, das dort Apfelsinen, Zitronen und Oliven reifen ließ, bewunderte ich den Schöpfer, der unsre Erde so vielgestaltig ausgestattet hatte. Doch im gleichen Atemzug bekümmerte mich, dass ihm, wie mir schien, die Menschen weniger gelungen waren, weil es ihnen an Einsicht, Güte und Friedfertigkeit fehlte.“

      „Hast du das nicht schon früher erkannt?“, fragte ich.

      „Nicht wirklich“, erwiderte er. „Vielleicht lag es zum Teil daran, dass ich mich, bevor ich eingezogen wurde, meist lieber allein in meiner Werkstatt als in größerer Gesellschaft aufgehalten hatte, so dass ich weder unsre Nachbarn noch die Bauern, die regelmäßig bei mir arbeiten ließen, tiefgründig genug kannte.“

      Es habe ihm, erzählte er, immer aufs Neue Spaß bereitet, Buchen-, Eichen- und Eschenstämme mit der Faustsäge zu durchtrennen, um aus den Bohlen, Brettern oder Leisten mittels Schneidmesser, Hobel, Raspel, Feile und Stemmeisen ganze Pferdewagen zu fertigen oder einzelne Teile, die zerbrochen oder verschlissen waren, zu erneuern. Wahrscheinlich wäre er sogar am Sonntag in die Werkstatt gegangen, wenn den unser Herrgott nicht zur Ruhe und Einkehr bestimmt hätte.

      „Was ich herstellte“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „musste bis ins Kleinste makellos sein. Mein Hang, alles so gut, wie ich konnte, zu bewältigen, wirkte sich für mich an der Front zunächst hilfreich aus, erwies sich später jedoch als Fluch.“

      Er beherrschte das Maschinengewehr, das ihm anvertraut wurde, weil er es gewissenhaft bis ins Letzte erforschte, bald wie kein Zweiter. Aber von Anfang an sträubte sich etwas heftig in ihm, damit auf gegnerische Soldaten zu schießen, die von einem friedlichen Leben mit ihren Familien träumten wie er, wenn er sich in Gefechtspausen oder wachen Nachtstunden zunehmend nach seiner Frau und den zwei kleinen Töchtern sehnte. Deshalb schoss er, sobald er sich unbeobachtet wähnte, absichtlich über die Angreifer hinweg. Nur in Augenblicken, da sie besonders bedrohlich und scheinbar zum Äußersten entschlossen anstürmten, sah er sich gezwungen, in ihre Reihen zu halten, um nicht selbst getötet zu werden. Da neben ihm weitere Schützen lagen, versuchte er, sich wider besseres Wissen einzureden, dass nur sie die Gegner niederstreckten.

      „Doch als ich, ehe sich unser Truppenteil kurz vor Kriegsende heimlich zurückzog, den Befehl erhielt, mit zwei Helfern, die mir Munition zutrugen, eine Stunde lang den Frontabschnitt zu halten, begriff ich, während die feindlichen Soldaten, von ihren Offizieren vorwärts getrieben, ungestüm anrannten, dass ich der Sensenmann war, der viele von ihnen niedermähte, um selbst zu überleben; denn mein flüchtiger Gedanke, mich zu ergeben, erschien mir wie feiger, unzulässiger Verrat.“

      Aus Gründen, die er nie ganz erfassen werde, habe der Allmächtige gewollt, dass er dem Tod entging. Nur so könne er sich erklären, dass er, von einem wundersamen Gespür geleitet, rechtzeitig die Maske übergestreift habe, als von der andren Seite unerwartet Gas eingesetzt worden sei.

      „Meine Gehilfen hingegen zögerten, obwohl ich sie aufforderte, meinem Beispiel zu folgen, zu lange, und so musste ich sie, bevor ich der Truppe mit letzter Kraft folgte, leblos am Maschinengewehr zurücklassen. Ich erreichte gerade noch die letzte Fähre und gelangte heil übers Wasser, derweil zahlreiche Kameraden, die uns verzweifelt in voller Ausrüstung nachsprangen, jämmerlich ertranken oder gnadenlos von den Verfolgern erschossen wurden.“

      Er saß weit vorgebeugt, hielt seine Hände, die auf den Oberschenkeln ruhten, wie zum Gebet gefaltet und wirkte so tief in seine Gedanken versunken, dass er mich vergessen zu haben schien. Als mich die Stille, die sich bis in den letzten Winkel der Werkstatt ausbreitete, zu bedrücken begann, erwog ich, ihn anzusprechen, wagte es aber nicht, weil ich fürchtete, ihn zu erschrecken. Da hob er von allein den Kopf, straffte seinen Rücken, strich sich über die spärlichen Haare, zwischen denen die Kopfhaut schimmerte, blinzelte mehrmals, da ihn das Petroleumlicht, das in einem vom Wind halb aufgedrückten Fensterflügel gespiegelt wurde, nach einem kurzen Flackern heller aus dem Glaszylinder leuchtete, sichtlich blendete, und murmelte schließlich, als spräche er nur zu sich selbst: „Das waren die letzten Bilder vom Krieg, die mich, körperlich unversehrt ins Dorf zurückgekehrt, nicht losließen und bewirkten, dass ich, ohne es von außen sofort erkennen zu lassen, nicht mehr derjenige war, der vier Jahre vorher in trügerischer Erwartung die Uniform angezogen hatte.“

      „Glaubst du, dass ausschließlich die Fronterlebnisse an deinem Wandel schuld waren?“

      „Das sicher nicht“, entgegnete er. „Schließlich hatte sich auch daheim einiges ereignet, das mich verstörte.“

      „Du denkst an Großmutter?“

      „Ja“, sagte er. „Obwohl auch sie sich äußerlich nicht wesentlich verändert hatte, erkannte ich sie kaum wieder.“

      „Wieso?“

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