Im Bannkreis er Erinnerung. Stefan Raile
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Название: Im Bannkreis er Erinnerung

Автор: Stefan Raile

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742720122

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СКАЧАТЬ sondern lieber Dinge kaufen wollten, die es für die Ost-Währung nicht gegeben hatte, Tag für Tag aus der Wohnung gescheucht, waren die halb verwilderten Tiere gezwungen, sich selbst Nahrung zu suchen. Dabei verloren nicht nur Mäuse, sondern auch zahlreiche Singvögel ihr Leben. Trotzdem reichte die Beute nicht, so dass noch mitleidige Nachbarn zum Unterhalt beitragen mussten.

      Wartete die Katze, die unablässig zu mir hochsah, ebenfalls darauf, dass ich ihr etwas vorsetzte? Sie war fast völlig schwarz, nur auf der Stirn leuchteten einige weiße Sprenkel. Erinnerte sie mich deshalb an unsere Macska Schneewittchen, an die ich nach der Vertreibung aus meinem ungarischen Heimatdorf Vaskút oft sehnsüchtig in Görlitz gedacht hatte? Oder gab es noch einen Grund, weil mir gleichzeitig auch unser Hund Betyár, der nur ein knappes Jahr bei uns gewesen war, in Erinnerung gerufen wurde?

      Als die Katze anfing, um meine Beine zu schmeicheln, entschloss ich mich, ihr etwas anzubieten. Von der Milch, die ich in ein Schälchen goss, schlabberte sie bloß ein bisschen, aber den Wurstzipfel, den ich ihr hinwarf, verzehrte sie mit großem Appetit.

      Noch hungriger war Betyár bei seinem Auftauchen gewesen. Wir hatten das klägliche Jaulen, das von der Straße bis in unsre Küche drang, am Abendbrottisch vernommen. Großmutter erhob sich zuerst und ging zum Hoftor. Als sie zurückkam, brachte sie einen Hund mit, der misstrauisch an der Tür stehen blieb und mit dem Schwanz wedelte. Doch als Großmutter ihm die Essenreste in einen Napf füllte, begann Betyár, wie ich ihn später wegen seiner oft drolligen Art nannte, alles gierig zu verschlingen.

      Er hatte ein glattes, braunweiß geschecktes Fell, reichte mir fast bis zur Brust und gehörte zu jener Art von Mischlingen, deren Vorfahren sich nicht mehr eindeutig bestimmen lassen. Wir nahmen an, dass ihn eine der Schwabenfamilien, die am Vortag aus dem Dorf vertrieben worden waren, zurücklassen musste. Wahrscheinlich war er verstört durch den Ort geirrt, hatte in einem Unterschlupf die erste Nacht verbracht und suchte nun, bevor die zweite begann, menschliche Nähe. So ein verwaistes Tier brauchte nicht nur Nahrung, sondern auch Zuwendung, die wir ihm, darüber waren wir uns sofort einig, gern geben wollten. Ein bisschen hegten wir bloß Sorge, dass er, wie es seiner Natur entsprach, unsre Macska Schneewittchen erbarmungslos bekriegen würde. Doch zu unsrem Erstaunen vertrug er sich mit ihr, als ahnte er, dass es in so schlimmen Zeiten nicht günstig wäre, durch Angriffslust unangenehm aufzufallen. Da er nicht nur die Katze in Ruhe ließ, sondern auch sonst ein gutmütiges Verhalten zeigte, wurde er rasch mein Freund und Spielgefährte, der mit mir im Garten tollte, sich das weiche Fell zausen ließ und jeden Gegenstand, den ich wegwarf, willig apportierte.

      Wenn ich auf meinen Dorfgängen, zu denen ich Betyár meist mitnahm, feindselige Blicke der ungarischen Jungen spürte, die an den Straßenecken herumlungerten, gab mir seine Anwesenheit Rückhalt, und ich glaube ganz fest, dass er mir im Notfall beigestanden hätte, ohne mich freilich gegen eine Übermacht schützen zu können. Als dann im nächsten Sommer jener Nachmittag kam, der unser Leben grundlegend verändern sollte, ließ ich, während meine Eltern und Großmutter, von einem Gendarmen bewacht, die Bündel zusammenschnürten, den Hund auf die Straße, weil ich hoffte, dass er so vielleicht am ehesten ein neues Zuhause fände. Vom Lastwagen, der uns mit unsren Habseligkeiten zum Bahnhof fuhr, sah ich Betyár reglos neben dem Torpfosten kauern. Obwohl er rasch kleiner wurde, konnte ich ihn noch eine Weile erkennen, dann verwischten ihn meine Tränen.

      Das alles fiel mir ein, während ich weiter Wäsche aufhängte und die schwarze Katze mit den weißen Sprenkeln ihre Wurst verzehrte. Als sie, schließlich gesättigt, erneut zu mir hochsah, wusste ich, sie würde am nächsten Tag wiederkommen, und ich begriff, dass ich mich darauf freute.

      WORTE

      Manchmal fallen mir aus jener fernen Zeit Worte ein, die Mutter noch lange danach und Großmutter bis zuletzt gesprochen hat. Es sind Worte, die ich erstmals im heimischen Dorf hörte, geformt in schwäbischer Mundart, mitgebracht drei Menschenleben vorher auf der großen, abenteuerlichen Reise vom Schwarzwald in die ungarische Ebene, durch meine Vorfahren bewahrt, weiterentwickelt, mit magyarischen und slawischen Begriffen vermischt, umgestaltet, abgeschliffen und im Klang verändert, weil kein Einfluss wirkungslos bleibt.

      Mein Verhältnis zu den Worten hat sich mehrfach gewandelt. Zunächst waren es für mich gewichtige, lebensnotwendige Ausdrücke der Sprache, die im Dorf zählte, neben dem Ungarischen natürlich, das im Kindergarten und in der Schule verlangt wurde. Erst später, nach der langen, aufgezwungenen Güterzugfahrt, die uns bis Sachsen führte, nahe an die Grenze zu Schlesien, wurde mir bewusst, dass es nicht nur die eine deutsche Sprache gab. Ich erlernte eine andre, die härter klingt und bis heute meinen Tonfall färbt, von den neuen Kameraden, hörte sie verfeinert auch von den Lehrern in der Schule, wo mir die frühere nur schadete, da sie keiner verstand und sie mich in der Orthografie behinderte. Die Sprache, die nun bestimmend wurde, entfernte mich von meinen Eltern, meiner Großmutter, anfangs nur verbal, danach wohl auch menschlich; denn es störte mich, dass sie sich das Vokabular, das sie im veränderten Umfeld unauffällig gemacht hätte, nicht wie ich anzueignen vermochten.

      Trotzdem vergaß ich jene frühe Mundart nicht. Ich kann sie, wenn ich nach Vaskút komme und jemand finde, der sie noch spricht, was immer seltener zu werden scheint, mühelos anwenden. Dabei fallen mir vermeintlich verloren gegangene Ausdrücke wieder ein, erfasse ich überraschende Zusammenhänge und bestaune das Vermögen meiner Vorfahren, Dinge und Erscheinungen so einfach wie treffend zu benennen: Maulmacher für Schwätzer, Gummiflinte für Katapult, Erdhase für Wildkaninchen. Den Sinn andrer Begriffe hingegen kann ich bis heute nur vermuten: Ist Mujo ein Synonym für einen mürrischen Menschen, Pusserant für Quälgeist, nisseln für verhalten weinen?

      Es belastet mich nicht, dass ich keine Gewissheit habe. Steckt in dem Vagen, Unergründlichen nicht auch ein beträchtlicher Reiz? Außerdem bleibt mir die Hoffnung, eines Tages doch hinter das Geheimnis zu kommen, genau wie bei Okrosel zu wissen, dass das Wort Stachelbeere heißt und von dem ungarischen egres abgeleitet ist, sicher wie bei Hotter zu sein, dass der Aus-druck, der die Gemeindegrenze bezeichnet, österreichischen Ursprungs ist.

      Weit mehr als meine Wissenslücken beschäftigt mich, woher mein Sinneswandel rührt, wieso ich zur Sprache meiner frühen Kindheit ein neues Verhältnis gefunden habe, ich selbst die simple Floskel „Wu kommscht’n her, wu gehscht ’n noa?“, die gedankenlos geäußert wurde, wenn sich Bekannte im Dorf begegneten, nicht mehr abschätzig betrachte, weil sie mir den vertrauten Tonfall ins Gedächtnis ruft.

      Liegt es daran, dass ich mich mehr und mehr auf früher besinne, die Worte mir helfen, das Erlebte wach zu halten. Oder geschieht es, weil mir bewusst ist, dass ich aus unsrer Familie als Letzter die Sprache beherrsche?

      Ich fürchte, die Mundart, die immer weniger im Dorf benutzen, wird irgendwann ganz aussterben. Es wäre schlimm, wenn es so weit käme, mit all den trefflichen Ausdrücken auch Maulmacher verloren ginge. Ist es nicht wirklich ein großartiges Wort?

      BEGEGNUNG IM GASTHAUS

      Als ich von den Werkstattgesprächen mit ungarndeutschen Autoren, die in Szekszárd stattgefunden hatten, für einige Tage nach Vaskút fuhr, lenkte ich das Auto wie gewöhnlich erst mal zu unsrem einstigen Haus, um zu sehen, ob der uralte Maulbeerbaum noch auf dem Hof stand. Kaum war ich ausgestiegen, näherte sich von nebenan die alte Nachbarsfrau, die uns Jahre vorher nach unsrer Ankunft aus Siófok empfangen und beim Verständigen mit den neuen ungarischen Besitzern geholfen hatte.

      Sie könne mir, sagte sie in der mir noch vertrauten Mundart, etwas mitteilen, das mich vielleicht interessiere. Das Haus, vor dem ich stehe, sei inzwischen verkäuflich, weil es grundlegende Veränderungen gegeben habe: Der Mann sei schon vor längerer Zeit unerwartet gestorben, und seine Frau, die nicht allein bleiben wollte, zu einer Tochter СКАЧАТЬ