Im Bannkreis er Erinnerung. Stefan Raile
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Название: Im Bannkreis er Erinnerung

Автор: Stefan Raile

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742720122

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СКАЧАТЬ in den Kopf gehen, dass sie es geschafft hatte, während meiner Abwesenheit sogar unser Vermögen zu vergrößern.“

      „Meinst du den Weingarten und das Feldstück im südlichen Hotter?“

      „Ja“, antwortete er. „Sicher weißt du auch, wie es ihr gelungen war, das Geld dafür zu verdienen.“

      Ich erinnerte mich, dass sie manchmal darüber gesprochen hatte. Durch Unterstützung der Schwiegermutter, die, wenn es nötig wurde, beide Enkelinnen beaufsichtigte, und den Beistand einiger Nachbarn, die abwechselnd mit Gespannen aushalfen, gelang es ihr, sämtliche Äcker zu bestellen und reiche Ernten einzubringen. Mit dem geschälten Mais, der den Schuppen gewöhnlich bis zum obersten Rand füllte, fütterte sie nicht nur zusätzlich Hühner, Enten und Gänse, sondern mästete jedes Jahr auch zwei Schweine, die sich, da sie prächtig gediehen, so leicht wie das Geflügel veräußern ließen. Den größten Erlös aber erzielte sie wohl dadurch, dass sie sich vom Sommer bis zum frühen Herbst zweimal wöchentlich in die acht Kilometer entfernte Kreisstadt Baja begab, um auf dem Markt frisches Obst und Gemüse aus unsrem Garten feilzubieten. Mit dem ersten Hahnenschrei verließ sie das Haus und trug die sorgsam in einen runden Korb geschichteten Erzeugnisse den ganzen Weg auf dem Kopf. Es ging ihr nur teilweise darum, das Geld für die Eisenbahn zu sparen. Vor allem wollte sie, um rasch und günstig verkaufen zu können, eher als die Bäuerinnen da sein, die den Zug benutzten. Besonders begehrt waren unsre großbeerigen, schillernden Trauben, die ungewöhnlich früh an den in drei Reihen hinterm Maisschuppen gepflanzten Rebstöcken reiften und vorzüglich schmeckten.

      Obwohl der Tag, an dem ich erstmals davon erfahren hatte, sehr weit zurücklag, entsann ich mich, wie beeindruckt ich von den geschilderten Geschehnissen gewesen war. Deshalb fragte ich Großvater, der noch immer blinzelte: „Was hat dich daran gestört?“

      „Nichts an der außergewöhnlichen Leistung deiner Großmutter. Die hab auch ich bewundert.“

      „Aber?“

      „Es war der falsche Augenblick, als ich davon erfuhr.“

      „Das heißt?“

      „Ich hatte mich darauf gefreut, endlich wieder für Frau und Kinder sorgen zu können. Jedoch kaum zu Hause eingetroffen, erfasste ich, wie gut sie ohne mich ausgekommen waren, ich eigentlich gar nicht mehr gebraucht wurde.“

      „War dir, was Großmutter vollbrachte, nicht eher aufgefallen?“

      „Schon“, gab er zu. „Vor allem im letzten Urlaub. Aber ich hatte es, weil ich’s nicht wahrhaben wollte, genauso sträflich verdrängt wie die Tatsache, dass die gegnerischen Soldaten nicht ausschließlich von den Schüssen meiner Nebenleute niedergestreckt wurden.“ Er strich über seinen Schnurrbart und blinzelte, obwohl die Lampe wieder schwächer leuchtete, noch auffälliger als vorher, während er weitersprach: „Doch nun begriff ich unwiderruflich, dass ich einer doppelten Lüge aufgesessen war, und ich spürte, dass mich die zweite Einsicht nicht weniger als die erste belastete. Bildlich betrachtet, zog jetzt nämlich deine Großmutter den Familienwagen. Notgedrungen war ein Pferdewechsel erfolgt, der dauerhaft schien, da sie trotz der Anstrengungen, die hinter ihr lagen, kein bisschen erschöpft wirkte. Ich hingegen fühlte mich wie ein ausgelaugter, lahmer, abgehalfterter Klepper, dem man für frühere Verdienste ein Gnadenbrot gewährt.“

      „Du übertreibst.“

      „Mag sein“, räumte er ein, „und vielleicht wäre es mir über kurz oder lang gelungen, mich zu rappeln, wenn deine Großmutter erkannt hätte, was in mir vorging. Aber sie hatte kein Gespür dafür, und ich scheute mich, ihr Einblick zu gewähren, weil ich fürchtete, sie würde mich, von der Plackerei hart geworden, für einen wehleidigen Schwächling halten. Sie war, durch die Umstände begünstigt, sehr weit an mir vorbeigezogen, und sie erwartete, vermute ich, dass ich ihr ohne Verzug folgte und mich ihr in dem Maße, wie ich den Alltag bewältigte, stetig annäherte, um eines Tages meinen früheren Platz einzunehmen.“

      „Hast du’s versucht?“

      „Natürlich. Doch ich merkte bald, dass ich zu wenig Kraft besaß, und mein guter Wille allein nicht genügte, sie ausreichend anzustacheln.“

      Großmutter habe ihn, überrascht von seiner Schwäche, argwöhnisch beobachtet, aber nie ein böses Wort gesagt. Trotzdem sei ihm bewusst gewesen, dass sie es lieber gehabt hätte, wenn er wie Petrich, der Schmied, aus dem Krieg heimgekehrt wäre, der zwar, am linken Bein von einer Kugel getroffen, merklich gehinkt habe, aber unbeschwerter als früher gewesen sei.

      „Vielleicht“, vermutete er, „glaubte sie, dass ich nur mehr Zeit brauchte, bis ich wieder der Alte würde. Doch anstatt sie sich mir liebevoll zuwandte, damit ich ihre Verbundenheit spürte, widmete sie sich noch stärker ihren Arbeiten, als wollte sie, um unser Vermögen weiter zu mehren, meinen Ausfall unbedingt wettmachen.“

      Ihm aber sei es nicht vorrangig um Besitz gegangen. Sonst hätte er nicht vielen Kunden, denen es in den schwierigen Zeiten an Geld gemangelt habe, wiederholt Zahlungsaufschub gewährt.

      „Mir kam es mehr auf die Arbeit als den Lohn an. Wenn ich an der Hobelbank stand und merkte, dass meine Fähigkeiten langsam, aber sicher zurückkehrten, vergaß ich, was mich bedrückte, und so wurde ich fast süchtig danach, Hobel, Säge oder Schneidmesser in die Hand zu nehmen. Möglicherweise“, fügte er hinzu, „half mir auch die Einsamkeit, die ich schon früher in der Werkstatt gesucht hatte. Doch der Mensch ist, wenn er mitten im Dorf wohnt, kein Einsiedler.“

      Über den Umgang mit seinen Kunden hinaus habe er sich mit Klock und zwei, drei weiteren Männern am Sonntagnachmittag zum Kartenspiel getroffen. Wenn sie im Sommer auf einem efeuumrankten Säulengang, in einer gut durchlüfteten Stube oder unter einem dichtbelaubten Baum am Tisch saßen, gewohnte Geräusche aufnahmen und bekannte Düfte einatmeten, hätte er sich im vertrauten Kreis wohlfühlen können, wäre nicht immer wieder der Krieg in ihre Gespräche gelangt.

      „Klock hat wohl“, redete er weiter, „als Einziger erkannt, was sich in mir abspielte. Da er mir nicht wie den Katzen, die seine heilsame Nähe suchten, helfen konnte, litt er fast wie ich, sobald Petrich zu schwadronieren anfing und immer wieder mit seinen angeblich im Kampf vollbrachten Heldentaten prahlte, die sich von Mal zu Mal auswuchsen, bis wir annehmen mussten, er habe den Gegner mit Feuer, Hieb oder Stich ohne jeden Pardon scharenweise im Alleingang vernichtet. Auch Lackner, ein Bauer, der gegenüber wohnte, erzählte wiederholt von seinen Kriegserfahrungen, drängte sich, da es seinem schlichten Wesen widersprach, aber nie wie Petrich in den Vordergrund. Ich begriff allmählich, dass sie versuchten, die Fronterlebnisse, von denen offensichtlich keiner loskam, auf ihre Art zu bewältigen. Sie fuhren, schien mir, mit ihrem Verhalten deutlich besser als ich, doch jeder besitzt seine Veranlagung, die unser Herrgott für ihn bestimmt hat, und so konnte ich mich nicht wie die andern befreien. Je lauter sie bei unsren Treffen wurden, desto mehr verschloss ich mich. Zum Glück lenkte mich die Arbeit nicht nur in der Werkstatt, sondern auch auf dem Feld ab. Eins mit der Natur, oft weit und breit allein unter dem makellos blauen Himmel, der sich wie Seide über mir spannte, verbrachte ich manchmal Stunden, die mich hoffen ließen. Aber dabei blieb es. Der entscheidende, dauerhafte Wandel, den ich mir sehnlichst wünschte, trat leider nicht ein.“

      So sei, fuhr er fort, Jahr für Jahr verstrichen, und mit der Zeit habe ihn nichts mehr wie früher berührt: nicht der betörende Duft, den die Akazienblüten verströmten, nicht die halbflüggen Schwalben, die ihre weit geöffneten Schnäbel aus den Nestern an der Kuhstallwand reckten, nicht die drei mächtigen Eichen hinter Lackners Gehöft, auf deren kahlen, knorpeligen Ästen sich wiederholt Raben niederließen, um bei strengem Frost den matten Sonnenschein auszukosten, nicht das klare, kühle Wasser aus dem Ziehbrunnen, das im Schöpfeimer blinkte, wenn er sich über ihn beugte, um zu trinken.

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