Gelbfieber. Thomas Ross
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Название: Gelbfieber

Автор: Thomas Ross

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783742722485

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СКАЧАТЬ ja, er spürte nun mit jeder Faser seines durchtrainierten Leibes, dass das Siegen nur kalte Arithmetik war. Das eine Prozent natürlicher Überlegenheit seines gesegneten Körpers stand den fünf, zehn, fünfzehn Prozent biochemischer Möglichkeiten entgegen. Fünf minus eins, eins minus fünf, wie man es auch dreht, der Betrag ist immer vier, und er ist immer negativ. Ebenso gut hätte Ben mit gebrochenen Füßen an den Start gehen können, ohne Königin gegen einen Schachgroßmeister gewinnen wollen. Fünf minus eins, eins minus fünf, so lautete das Kräfteverhältnis der nordamerikanischen Indianer, die mit Pfeil und Bogen und Streitaxt bewaffnet im Kugelhagel der weißen Armeen bluteten. Fünf minus eins, eins minus fünf, so riefen die Trommeln der afrikanischen Stämme zum Krieg gegen die europäischen Usurpatoren, fünf minus eins, das ewige Verhältnis von Sieger und Besiegtem und gnadenlose Wahrheit, der auch Ben sich fügen musste; an jenem denkwürdigen dritten Juni nämlich, bei diesem gottverdammten Anstieg zum Nufenenpass in den Schweizer Alpen. Dort durchschritt er sein Inferno, dort durchmaß er sein Leiden, sein Körper und er allein gegen den Berg, diesen verfluchten Berg. Und im Moment der größten Entäußerung fällte das grausame Schicksal sein Urteil. Es gab Weisung, das Fallbeil über dem Hals des Helden zu lösen.

      Er spürte das scharfe Eisen in seinem Nacken in dem Moment, als die Dreiergruppe zu ihm aufschloss. Sein Bewusstsein blitzte ein letztes Mal auf und Ben sah ein helles Licht, dann löste sich der Kopf vom Rumpf und sein Leben erlosch in einem schwarzen Punkt. Siegfried spürte den blanken Stahl in seine Schulter dringen, und von nun an würde er ihn wieder und wieder spüren, an allen Gliedern seines Körpers, und immer aufs Neue würde er ihn sterben müssen, diesen furchtbar einsamen Tod ohne Hoffnung und ohne Liebe, einen Tod ohne Verheißung auf ein neues Leben im Radfahrerolymp. An diesem Tag erreichte Ben das Ziel als Achter mit drei Minuten und fünfunddreißig Sekunden Rückstand. Drei Minuten fünfunddreißig Sekunden, das ist eine Welt für einen, der auf der Erde steht und zu den Sternen will. Drei Minuten fünfunddreißig Sekunden, das ist der Unterschied zwischen Wachen und Träumen, Hoffen und Wissen, Leben und Sterben. In jenen bitteren Stunden der Niederlage begriff er, dass etwas Unausweichliches, etwas Endgültiges geschehen war, aus seinen Tränen schimmerte etwas hervor, das den hässlich derben Geschmack des Unumkehrbaren in sich trug; die raue Erkenntnis der Sterblichkeit brannte wie Feuer in seinem Herzen und der Schmerz dieser elenden Niederlage riss seine Seele entzwei.

      Er schleppte sich durch zwei trübsinnige Wochen, dann aber spürte er in seinem Inneren eine Regung, etwas Lebendiges, Hoffnungsvolles stieg aus seinem Herzen empor. Es war eine Regung des Widerstands und des Mutes eines Geschlagenen, der sich nicht ergeben will, weil er zum Kämpfen geboren ist und eher auf dem Schlachtfeld fallen will, als sich dem Kummer und der selbstmitleidigen Trostlosigkeit eines altersschwachen Todes im heimischen Bette anheimzugeben. Ben lehnte sich gegen das scheinbar unvermeidliche Schicksal auf. Niemals, niemals würde er aufgeben, nein, er würde kämpfen, härter trainieren als je zuvor, noch mehr aus seinem Körper herausholen, koste es, was es wolle und – der Gedanke kam ihm fast nebenbei – vielleicht wäre es gut, einmal mit den Ärzten zu reden. Ja, das wäre sicher gut, mal sehen, was die dazu sagten.

      Ben hatte das Rennen nicht fortgesetzt. Wegen einer Erkältung, lautete die offizielle Erklärung. Tatsächlich verbrachte Ben den Tag abseits der Rennstrecke in träumerischer Schwelgerei von Ruhm und Ehre. Wo er sich den ganzen Tag herumgetrieben hatte, wollte er aber nicht sagen, was ihm harsche Kritik des Teamleiters und den Vorwurf der Disziplinlosigkeit einbrachte, darüber hinaus aber, wohl infolge seiner Ausnahmestellung im Team, keine weiteren Konsequenzen nach sich zog. Zum Abendessen kam er wieder, aber niemand wollte mit ihm sprechen – was hätte man auch sagen sollen? Nach dem Essen bat der Teamleiter um eine Unterredung. Hinzu kamen der leitende Teamarzt und seine zwei Stellvertreter. Ben setzte sich auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch im Besprechungszimmer. Gegenüber hatten die vier Männer Platz genommen. Es war ein Tribunal, ganz offensichtlich. Versteinerte Mienen im Wettstreit, wer wohl das ernsteste Gesicht aufsetzen, die schärfste Zermürbung, die tiefste Bitterkeit ausstrahlen konnte. Ben saß mit hängenden Schultern da und schien das alles kaum zu bemerken. Wenn er überhaupt mit etwas rechnete, dann allenfalls mit einer schärferen Wiederholung des Vorwurfs, den er bereits kannte. Er hatte sich ohne Abmeldung aus dem Rennen gestohlen. Das tut man nicht, es widerspricht dem Ehrencodex der Fahrer, es vergiftet den Teamgeist usw. usw. Mit diesem Zeug würden sie ihm kommen, und da Ben das Unrecht ja einsah, langweilte er sich in Erwartung der neuerlichen Zurechtweisung schon. Und mit der Langeweile erloschen die lebensfrohen Gedanken, die ihn gestern aus höchster Not vom Unerträglichen ins Lebenswerte zurückgeführt hatten, und die hoffnungsvollen Vorsätze, die er noch in derselben Nacht gefasst hatte. Es war alles wieder beim Alten und der Gedanke, dieses verhexte Rennen wieder aufzunehmen, war ihm ganz zuwider.

      „Ben, wir haben da was für dich.“

      Der Angesprochene hob den Kopf und sah seinen Teamchef aus verlorenen Augen an. „Bin ich jetzt entlassen?“

      „Nein“, lächelte der milde und fügte mit väterlicher Fürsorge hinzu: „Ben, mein Junge, wir haben uns lange gefragt, wie das eigentlich möglich war …“

      „Wie was möglich war“, dachte Ben und bekam prompt die Antwort: „… dass du so verdammt lange mithalten konntest. Und was noch viel erstaunlicher ist: Du konntest sogar Rennen gewinnen …“

      Ben öffnete den Mund, aber der Teamleiter kam ihm zuvor: „Nein, sag jetzt nichts. Hör einfach nur zu. Du hast verdammt lange mitgehalten. Du hast sogar gegen Leute gewonnen, gegen die du eigentlich gar nicht hättest gewinnen können! Du bist verdammt begabt, mein Junge, aber gestern hast du verloren, weil du an eine Grenze gestoßen bist, die selbst dein begnadeter Körper nicht zu überschreiten vermag ... wenn, ja wenn man ihn bei diesem Schritt nicht angemessen unterstützt ...“

      Da dämmerte es Ben, worauf sein Trainer hinauswollte. Von Rauswurf konnte gar keine Rede sein und auch nicht von disziplinarischen Maßnahmen. Es würde keine Litanei über Disziplin und Ehre und Mannschaftsgeist geben, nein, diese Männer waren gekommen, um ihm zu helfen, und Ben empfand ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit und tiefe Dankbarkeit.

      Seine Augen blitzten erwartungsvoll.

      „Du verstehst?“, fragte Waitz. „Natürlich verstehst du. Die Kerle, die dich gestern haben stehen lassen, die fahren doch nicht auf Nudeln und Brot und Leitungswasser, und die zwanzig hinter dir auch nicht. Die helfen alle nach, und weil sie es tun, haben sie viel mehr, als eigentlich geht, und du, mein Junge, kommst dagegen nicht mehr an.“

      Der Trainer sah den Chefmediziner Dr. Liebermann vielsagend an. Der nickte. „Was wir dir anbieten, Ben, sind die Prozente mehr, die auch die anderen haben – auf diese Weise stellen wir den naturgegebenen Abstand wieder her. Ich bin sicher, dass du diesen Berg unter optimalen Bedingungen vier Minuten schneller hochfahren kannst, als du es gestern getan hast. Mit vierzig Watt mehr in den Beinen steckst du sie alle in den Sack, das garantiere ich. Tu, was wir dir sagen, und du wirst sehen, was aus dir noch wird. In drei Jahren fährst du die Tour, und wenn du recht bei der Sache bleibst, wirst du sie eines Tages auch gewinnen!“

      Und genau so kam es. Am 24. Juli 2009 fuhr Ben in Gelb nach Paris. Der erste deutsche Toursieger! Es war ein rauschendes Fest, viel schöner noch, als Ben es sich je vorgestellt hatte. Auf den Champs-Élysées jubelten Tausende, sie waren gekommen, um ihn zu sehen, den neuen Imperator des Radsports, und vor ihm, dem Sohn des kleinen Handwerkers und der Hausfrau aus Ostdeutschland, neigten sie die Häupter und beugten die Knie. Das Fahrrad war sein Streitross, der Helm sein Lorbeerkranz. Heil dem Cäsar, heil dem Herrscher der Welt, heil der süßen Wonne dieses unvergleichlichen Augenblicks. Welch Labsal war dies nach den Wochen des Leids und der Entbehrung!

      Drei Etappen hatte Ben gewonnen: das Zeitfahren, eine Pyrenäenetappe und die Königsetappe nach Alpe dʼHuez. Seinen ärgsten Widersachern hatte er widerstanden, СКАЧАТЬ