Anatomie des Handy-Menschen. Matthias Morgenroth
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Название: Anatomie des Handy-Menschen

Автор: Matthias Morgenroth

Издательство: Bookwire

Жанр: Религия: прочее

Серия:

isbn: 9783429064891

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СКАЧАТЬ der Digitalisierung uns stärken, welche schwächen, welche ängstigen und welche einen gesellschaftlichen und persönlichen Rückschritt bedeuten würden. Denn alle sind immer noch Anfänger. Es gibt in dem Forschungsgebiet, in das wir uns mit den folgenden Erkundungen begeben wollen, noch keine Erfahrungen, die sich über Generationen vermittelt haben, wenig Lehrbücher, Leitbilder und Anweisungen. Es gibt digitale Propheten. Es gibt viele sehr bemerkenswerte Momentaufnahmen aus unterschiedlichsten Perspektiven, auf die wir zurückgreifen können. Aber so richtig lange Erfahrung hat noch keiner mit dem Smartphone sammeln können. Wie auch. Davor und daneben gab es einige Vorläufer für Spezialisten (wer verwendet noch Blackberrys oder Palms …), doch diese technische Geburt im Jahre 2007 markiert den entscheidenden Wendepunkt für unseren Alltag und unser Erleben, und das ist eben noch nicht lange her.

      Nur eine Dekade später gibt es nur noch einige wenige Menschen, die nicht ganz selbstverständlich mit einem Smartphone zusammenleben oder eben vielmehr mit ihm verwachsen sind. 2018 wurden weltweit 1,4 Milliarden Smartphones verkauft.2 Im selben Jahr besaßen einer Schätzung zufolge rund zwei Drittel der Menschheit ein Smartphone,3 in Deutschland waren es 81 Prozent der Menschen, die älter als dreizehn waren.4 Und diese Zahlen sind heute, wenn du dieses Buch liest, schon alt. Ob es ein paar Millionen Smartphones mehr oder weniger sind, ist auch völlig egal, diese Zahlen belegen nur, was wir alle sehen und wissen, wenn wir mit der U-Bahn fahren, auf den Bus warten, uns im Büro umschauen, zu Hause am Tisch sitzen, mit Freunden oder mit unseren Kindern oder Enkelkindern unterwegs sind: Die allermeisten Erdbewohner gehen wie an einer digitalen Leine durch die Welt. Und dazu dient ja nicht nur das Smartphone, sondern dazu dienen außerdem auch noch Tablets, PCs, Laptops, Smart-Watches, Datenbrillen und Co. Derzeit erleben wir – coronabedingt – noch eine potenzierte Verlagerung des Alltags ins Digiale.

      • Aufgabe 1: Geh auf die Straße und zähle die Leute mit Handy, die dir begegnen.

      • Aufgabe 2: Du hast die S-Bahn verpasst. Oder du hast zehn Minuten Mittagspause. Keiner will etwas von dir. Was könntest du noch tun, außer zum Handy zu greifen? Fällt dir nichts mehr ein?

      Alle sind Anfänger. Anfänger, die manchmal staunend und zukunftsfreudig, manchmal angstvoll und alarmiert beobachten, analysieren, fühlen und erfahren, welche Veränderungen innerhalb ganz weniger Jahre die digitalen Geräte in unseren Händen mit uns als Einzelne und mit uns als Gesellschaft verursacht haben. Und wo das hinführen könnte. Für alle Effekte gibt es sowohl eine utopische als auch eine dystopische Erzählung, und das macht die ganze Sache doppelt kompliziert. Wir fühlen uns unsicher.

      Und dann fällt es uns auch noch schwer, diese Effekte wirklich nach den gewohnten wissenschaftlichen Kriterien einzuordnen oder zu belegen. Denn erstens ist unser Beobachtungszeitraum noch sehr kurz, zweitens bräuchte man ja, um wirklich klar sagen zu können, welche Veränderungen ursächlich auf die Smartphone-Nutzung zurückzuführen sind, eine valide Vergleichsgruppe in selben gesellschaftlichen Bedingungen ohne Smartphone – und die gibt es definitiv nicht. Und drittens müssten die Bedingungen für eine solch aussagekräftige Studie einigermaßen stabil bleiben, aber das tun sie nicht, denn laufend verändern sich wesentliche Teile dessen, was wir beobachten wollen, die Gadgets, also unsere technischen Lebensbegleiter, wie auch die Widgets, also die Benutzeroberflächen, sowie auch die Apps, also die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten.5

      Dementsprechend läuft eine breite und zum Teil aggressiv geführte Diskussion darüber, welche Studien wie zu deuten sind, was nur zufällig gleichzeitig auftaucht und was kausal zusammenhängt, zumal wohl die finanzkräftigsten Unternehmen der Welt, die „Big Five“ Apple, Amazon, Google, Facebook und Microsoft, versuchen, die Stimmung zu ihren Gunsten zu steuern und nichts Nachteiliges über die scheinbar alternativlose digitale Entwicklung zu sagen. Sie verstehen sich mit geradezu religiösem Gestus als Weltverbesserer zu verkaufen.6 Logisch. Es ist ja ihre schöne neue Welt, und dass sie profitorientierte Unternehmen sind, deren Strukturen und Geschäftsmodelle Teil des Problems sein können, wird dabei gern vergessen. Dass etwa Facebook seit Neuestem an der TU München einen Lehrstuhl für Medienethik finanziert, erscheint in diesem Zusammenhang vielen wie ein Feigenblatt.7

      Und dann gibt es noch etwas, was einer nüchternen Betrachtung der Phänomene zuwiderläuft. Jede und jeder, du und ich, haben bestimmte Gefühle zu unseren digitalen Endgeräten entwickelt. Ja, Gefühle. Es muss ja nicht gleich Liebe sein, aber es geht schon in die Richtung. Es muss auch nicht gleich Sucht sein (die Diagnose Handysucht wurde 2018 von der WHO offiziell in den Kanon der anerkannten Krankheiten aufgenommen), aber auch das geht in die richtige Richtung, auch das Leugnen und Verstecken des Suchtmittels gehört ja schließlich zu den Symptomen von Sucht dazu. Was Verliebtheit und Sucht verbindet, ist, salopp gesagt, dieses: Beides macht blind, und das erschwert das Nachdenken und Erkennen von dem, was gerade mit uns und um uns passiert.

      Möglicherweise kann deshalb gerade die Tatsache, dass wir alle Anfänger sind, Mut machen. Wir alle können, sollen, dürfen und müssen mitreden, unperfekt und tastend, vielleicht manchmal blind. Das heißt aber auch: Wir alle müssen nicht alles glauben, was uns Spezialisten erzählen oder uns verkaufen wollen oder unhinterfragt praktizieren. Nein, wir dürfen und wir müssen mitreden, weil es um uns selbst geht. Um uns und unser Leben.

      • Wann hast du dein erstes Smartphone in der Hand gehalten? Was hast du gefühlt? Versuche, dich an eine Zeit vor dem Smartphone zu erinnern!

      • Wäre dein Smartphone ein Tier, als welches würdest du es sehen?

      • Welches sind die Lieblingseigenschaften deines digitalen Freundes in der Hand?

      • Wo liegt dein Handy gerade? Willst du nicht mal kurz einen Blick darauf werfen?

      Das Smartphone verändert unser Zeit-, Welt- und Selbstverständnis, mit oder ohne social distancing. Wir sind mitten drin in einer geistigen Metamorphose. Obwohl das, was passiert, auch ganz konkrete Auswirkungen auf unsere biologischen Körper haben kann, man denke an Kurzsichtigkeit durch Handynutzung, die neue Daumenkompetenz der digital natives oder nachweisbare Veränderungen im Gehirn.8 Oder, etwas kurioser, den Vormarsch der Läuse, weil wir die Köpfe über den Handys enger zusammenstecken,9 sowie die Lebensgefahr, in die sich die Leute beim Selfie-Schießen begeben, die Todesrate ist weltweit erfasst, in Deutschland ist allerdings bis 2017 nur ein Todesfall direkt aufs unachtsame Fotografieren mit dem Handy zurückzuführen.10 All das lassen wir beiseite.

      Die „Organe“ oder „Sinne“, die wir im Folgenden untersuchen werden, sind anderer Natur. Sie sind so neu, dass wir ihnen sogar erst noch Namen geben müssen. Uns sind Flügel gewachsen, wir tragen Hornhaut auf der Seele, haben einen Wisch-Welt-Daumen und eine Dunkellinse bekommen, einen Möglichkeitssinn und ein Vertrauensseelchen und noch einiges mehr.

      Zunächst müssen wir uns noch kurz über das Instrumentarium dieser Anamnese verständigen: Nach welchen Methoden müssen wir vorgehen, um uns zu scannen? Welche Kurzschlüsse im Denken gibt es, zu welchen Verwechslungen neigen wir, wenn wir ans Handy denken und mit ihm zusammenleben? Welche Kontrastmittel müssen wir daher spritzen?

      Jeder von uns redet dabei von einem anderen Standpunkt aus mit. Hat andere Erfahrungen im Gepäck. Bei mir verhält es sich in Bezug auf diese Anatomie des Handy-Menschen so: Erstens erlebe ich in der tagtäglichen Arbeit als Reporter und Redakteur eines öffentlich-rechtlichen Senders, wenn ich mit dem Umsetzen von Nachrichten für Hörfunk, Fernsehen, Online und Social Media zu tun habe, wie sehr die Form den Inhalt bestimmt, wie sehr die neuen Rahmenbedingungen Inhalte verändern, СКАЧАТЬ