Название: Anatomie des Handy-Menschen
Автор: Matthias Morgenroth
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783429064891
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• Welches sind deine Kompetenzen? Aus welcher Perspektive kommst du aufs Handy zu?
• In welchen Momenten fühlst du dich abgehängt von anderen Usern, und um was beneidest du sie?
• Woran hängt dein Herz?
So. Nun können wir starten. Wichtige Vorbereitung: Bitte lege dein Smartphone nicht nur zur Seite, mache es am besten auch aus. Geht das? Kannst du das? Es ist wichtig, denn schon das neben uns gelegte oder im Raum befindliche Smartphone absorbiert, wie Experimente zeigen, unglaublich viel von unserer Aufmerksamkeit.11 Und das wäre schade. Zugegeben: Es ist beinah schon so etwas wie ein Abenteuer: Nicht googeln – selbst denken!
1. Auf der Suche nach dem Selbstgefühl: Das Instrumentarium
Der Mensch ist ein Mängelwesen. Wir sind nicht vollständig. Mängelwesen: So hat uns der Anthropologe Arnold Gehlen schon vor Jahrzehnten genannt.12 Der Mensch ist ein Mängelwesen – und das ist seine Stärke. Gemeint ist, dass wir, anders als die meisten anderen Lebewesen, ohne viele Hilfsmittel nicht überleben können und deswegen eine ungeheure Schöpfer- und Geisteskraft entwickelt haben. Wir haben kein Fell, also brauchen wir Kleidung. Wir haben keine Reißzähne, also erfinden wir Jagdwaffen. Wir haben keine Chance, ohne Mitmenschen zu überleben, also haben wir Familien, Clans und Gesellschaften, Sprache und Kultur. Wir haben, weil wir Beziehungswesen und uns unserer Sterblichkeit bewusst sind, Worte, Tätigkeiten und Institutionen entwickelt für Situationen, in denen es weder etwas zu sagen noch etwas zu tun gibt: Gesänge, Gebete, Rituale und Religionen. Sie geben uns Sicherheit im Angesicht von Zufall, Unfall, Glück und Unglück, im Angesicht des Todes.
Mit dieser komplementären, heißt auffüllenden Sichtweise lässt sich tatsächlich die Geschichte der menschlichen Kultur gut beschreiben: Wir haben zu wenig mitbekommen auf diese Welt und bauen uns durch menschliche Kreativität Ersatz, eine zweite Natur.
Im Spiegel: Unterwerfung und Vergötterung
Wie bei allen Dingen, die der Mensch erschafft und sich als Gegenüber setzt, laufen wir Gefahr, uns der uns selbst geschaffenen Struktur zu unterwerfen, ohne es zu bemerken.13 Wir setzen uns zum Beispiel Regeln, die zunächst sinnvoll sein mögen. Wenn die Zeiten sich ändern und der Sinn der Regeln abhandengekommen ist, bleiben sie meistens trotzdem bestehen, und es braucht eine gewisse Zeit, bis wir das registrieren und uns wieder davon emanzipieren, man denke an die Beharrungskraft von Alltagsvorschriften, wenn sie in heiligen Büchern stehen.
Wir bauen uns auch Werkzeuge und strukturieren, sollten wir mit ihnen Erfolg haben, unsere Tätigkeiten ihnen zuliebe um, man denke an die Umwandlung unserer direkten Umgebung in menschenfeindliche Verkehrsadern, dem Werkzeug Auto zuliebe. Wir schaffen uns ebenso geistige Hilfsmittel, die, wenn sie sich als hilfreich erweisen, unsere Wege fortan bestimmen und auf uns zurückwirken. Ludwig Feuerbach, einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, meinte, das „Wesen des Menschen“ bestehe darin, sich das Ergebnis seines geistigen Schaffens als normatives Gegenüber zu denken – und im Extremfall sogar zu vergöttern und anzubeten.14
Früher, zu Zeiten, die uns mittlerweile vorkommen wie tiefstes Mittelalter, früher, also vor etwas mehr als zehn Jahren, früher, ja damals …, da war das Handy nur ein mobiles Fernsprechgerät. Ungeheuer praktisch, wenn man unterwegs war und jemanden anrufen wollte und keine Telefonzelle „zur Hand“ war. Heute ist unser zum Smartphone evolviertes Handy nur noch nebenbei ein Telefon. Es ist Briefkasten, Telegramm- und Funkstation, Adressbuch, Kalender, Notizbuch, Diktiergerät, Videokamera, Foto und Album, Spiegel, Wecker, Spielgerät, Zeitung, außerdem noch Taschenrechner und Taschenlampe, Navigator und Weltatlas, Lexikon, Wetterfrosch und Thermometer, Radio, Fernseher, CD-Player, Flohmarkt, Einkaufscenter, Kontaktbörse, Puff, Meinungsmacher, Zeitungsersatz, Newscenter, Stammtisch, Aufenthaltsraum, Büro, Meetingpoint, Marktplatz, Pranger, Gegenüber, Freund und Helfer – und ganz grundlegend ist das Handy unser Tor zur Welt, in der digital und analog längst verschränkt existieren, so dass man, wie man angesichts der Corona-Pandemie gesehen hat, das Analoge sogar ins Koma legen kann, ohne dass wir zusammenbrechen.
Mein weites Ich: Potenz in Reinform
Der prägende Denker der Medienwissenschaften des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan, selbst Pop-Ikone seiner Zeit, bezeichnete jedes Medium als „Ich-Erweiterung“. Ganz konkret gemeint. Ich erweitere meinen Horizont. Das beginnt bei der Schrift und den daraus entstehenden Texten. Das funktioniert auch beim Radio und beim Fernsehen. Auch dort reisen wir in der Vorstellung durch Raum und Zeit. Allerdings bleiben wir dabei abhängig von dem, was gesendet wird.
Das Smartphone ist nun eine potenzierte, eine radikale Ich-Erweiterung in jede Richtung und mit völlig individuellen Möglichkeiten. Es entspricht damit der Plastizität des menschlichen Gehirns aufs Vortrefflichste. Oder, um es mal voller Pathos religiös auszudrücken, es entspricht der Welt- und Gottoffenheit des Menschen. Schon die smarte Oberfläche, der Touchscreen, ist Potenz in Reinform. Alles ist möglich! An jeder Stelle kann jedes beliebige Bild auftauchen. Und, mobile Daten vorausgesetzt, von jeder Stelle aus kann ich an jede Stelle der digitalen Welt tauchen. Eine radikale Ich-Erweiterung ist möglich!
• Was ist mit den Fotos deiner Lieben auf dem Handy? Genügt es, sie auf der Card zu haben? Druckst du sie auch noch aus? Hängst du sie auf oder gestaltest ein Fotoalbum? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren!
• An wie vielen Tagen genügt es dir, kurz und knapp mit ein paar Leuten zu chatten, und an wie vielen Tagen triffst du dich wirklich mit einem realen Menschen? Vergleiche dich mit vor zehn Jahren! Vergleiche vor und nach dem Lockdown!
• Fühlst du dich erst so richtig in der Arbeit angekommen, wenn du deinen Rechner hochgefahren hast und die Programme laufen? Wann machst du das Handy am Morgen an – und wann machst du es aus?
Innerhalb weniger Jahre haben wir uns auf diese Weise individuell verknüpft, verbunden und uns selbst ausgelagert – und wähnen uns dabei frei. Weil wir auf den ersten Blick so viel selbst bestimmen und wählen und googeln können, erleben wir die Zwänge und Gesetzmäßigkeiten des neuen Mediums nicht als Fremdsteuerung oder Einschränkung unserer Freiheit. Wir haben ja unseren hilfreichen Begleiter nach unserem Willen und Gusto gestaltet, haben Klingeltöne ausgewählt, den Hintergrund und den Sperrbildschirm bestimmt sowie ein persönliches Passwort erfunden. So was fühlt sich frei und machtvoll an. So was lieben wir, weiß die Handyindustrie.
Perspektivwechsel: Die Botschaft fühlen
Von Marshall McLuhan stammt auch der Slogan: „The medium is the message.“ Das Medium ist die Botschaft. Was bedeutet: Jedes Medium verändert seine Nutzer. Um herauszufinden, wie und auf welche Weise, muss man die Blickrichtung ändern und den Möglichkeiten des Mediums nachspüren. Dann erst haben wir die Botschaft begriffen.15 Darum sollte es uns gehen, wenn wir die „digitalen Endgeräte“ betrachten.
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