Название: Selbstgespräche
Автор: Charles Fernyhough
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783831269525
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Für Lara beginnt der Prozess genau an diesem Tag. Am ersten Tag kann sie ihre DES-Momente nicht gut beschreiben, weil das am ersten Tag niemandem gelingt. Russ erklärt, dass die Menschen ihre eigene Erfahrung in der Regel so schlecht beschreiben können, dass die Berichte des ersten Tages allesamt unbrauchbar sind. Aber Lara wird es immer besser machen. Bei der DES handelt es sich um einen iterativen Prozess, wie Russ ihn bezeichnet: Es geht darum, den Probanden und den Interviewer zu trainieren, um die »einzigartige innere Erfahrung des Subjekts mit zunehmender Genauigkeit« beschreiben zu können. Das gelingt nicht ohne Training und ohne die Bereitschaft, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Russ stellt fest, dass es den Menschen in der Regel besser gelingt, ihre Erlebnisse zu verbergen, als sie korrekt zu beschreiben.
Außerdem ist er der Meinung, dass die DES-Methode viele der Probleme umgeht, mit der das Unterfangen der Introspektion verbunden war. Zum einen hat Russ als Forscher kein anderes Ziel, als die Phänomene während ihres Auftretens zu erkunden, worum es sich auch immer handeln mag. Weder geht er die DES-Befragung mit einer Theorie befrachtet an noch steckt die DES ihre Interessenskategorien von vornherein ab, obwohl mit ihrer Hilfe festgestellt wurde, dass bestimmte Arten von Erfahrungen immer wieder auftauchen: Bildsprache, Körperempfindungen und innere Sprache. Russ Hurlburt bezeichnet letztere als »inneres Sprechen«, um den aktiven Charakter hervorzuheben. Aber er ist an der inneren Sprache nicht besonders interessiert, jedenfalls weniger als ich – eine Tatsache, die mich wahrscheinlich zu einem alles andere als idealen Nutzer dieser Methode macht.
Die DES ist vor allem von einer philosophischen Methode inspiriert, die als Phänomenologie bekannt ist. Phänomenologie bedeutet wörtlich die Erscheinungslehre, und durch ein kurioses Paradox war sie eine der Kräfte der Philosophie im 20. Jahrhundert, die zum Niedergang der Introspektion beitrug.
Als Russ mit den quantitativen Ergebnissen, die er durch den Piepser erhielt, unzufrieden war, beschäftigte er sich mit den Werken von Husserl und Heidegger und brachte sich selbst Deutsch bei, um ihre Schriften gründlicher studieren zu können. Für Russ besteht die wichtigste Lektion der Phänomenologie in dem, was als die »Einklammerung aller Vorurteile« bekannt ist: die Fähigkeit des Forschers, die eigenen vorgefassten Meinungen, wie die Dinge sein werden, beiseitezulassen und zu beobachten, wie sie tatsächlich sind. Will man herausfinden, was sich im Kopf eines anderen Menschen abspielt, sollte man nicht vor Beginn der Untersuchung mutmaßen, dass man es bereits wisse. Dies gilt insbesondere für die Untersuchung eines speziellen Phänomens wie der inneren Sprache. Wenn man zu Beginn davon ausgeht, dass die Menschen die ganze Zeit mit sich selbst sprechen, werden die Daten diese vorgefasste Meinung höchstwahrscheinlich wiedergeben.
Trotz der vielen Jahre, die Russ an der DES gearbeitet hat, betrachtet er die Methode nicht als perfekt. Zum einen sind die DES-Berichte stets durch die Erinnerung gefiltert – ein Problem, das William James bereits 1890 vorhersah –, und die Augenblicke des Bewusstseins werden nach dem Ereignis rekonstruiert. Das sind zwei der Gründe, weshalb Russ an den Details von Laras Gedanken über das Bier so interessiert ist. Sie hat festgestellt, dass sie sich unsicher war, was sie genau gedacht hat; es hat den Anschein, als führe der Prozess des intensiven Nachdenkens über die Erfahrung dazu, dass den Probanden Zweifel beschleichen. Das ist ganz normal, stellt Russ fest. »Wir machen den Job so gut, wie wir können«, versichert er ihr. »Wir erwarten nicht von dir, dass du perfekt bist, weil wir das für unmöglich halten. Wir wollen lediglich versuchen, es gut zu machen.«
Ich frage Lara nach den Wörtern, aus denen der Gedanke bestand. War es: Will ich noch ein BIER haben? Oder: Will ich noch EINES? »Ich würde sagen, eines«, antwortet Lara, »definitiv eines.« Das sind die Arten von Details, mit denen wir uns in den folgenden Wochen beschäftigen werden. Lara beschließt, sich im Augenblick, in dem das Piepen ertönt, mehr Notizen zu machen und genauere Angaben über die Momente des Bewusstseins, die sie beschreibt, zu liefern. Lara ist eine unserer ersten Studienteilnehmerinnen, sie ist intelligent und engagiert, beflissen, es zu probieren und zu versuchen, dass es funktioniert. Man kann sich auf so etwas nicht beiläufig oder halbherzig einlassen. Dafür bedeutet es zu viel Arbeit. Für Lara sind die Augenblicke, die sie beschreiben soll, so flüchtig, so fern dessen, was sie normalerweise als Fokus ihrer Gedanken betrachten würde, dass es ihr schwerfällt, darüber zu sprechen. »Weißt du, so, wie wenn man nach einem Traum aufwacht und ihn dann sofort vergisst? So ist das.« Russ ermuntert sie, am Ball zu bleiben. Es wird mit der Zeit einfacher werden. Es wird nie perfekt sein, aber so nahe an »perfekt« heranreichen, wie es die Wissenschaft aktuell vermag.
An diesem Abend kehre ich in mein Hotel zurück und übertrage die Notizen der Befragung. Ein Gewitter geht über Dahlem nieder, das grüne Stadtviertel, in dem sich das Max Planck Institut für Bildungsforschung befindet und in dem wir die Studie durchführen. Jenseits meiner Tätigkeit als Schriftsteller habe ich noch nie so viel Zeit damit verbracht, über die Details der Erlebnisse anderer Menschen nachzugrübeln. Ich schicke die Notizen per E-Mail an Russ, und er antwortet sofort und weist mich auf Fehler hin, die ich gemacht habe, auf Stellen, bei denen meine Erwartungen, wie Laras Erfahrung sein sollte, einer korrekten Wiedergabe im Weg standen. Die Einklammerung aller Vorurteile ist der Dreh- und Angelpunkt. Man muss lernen, diese detaillierten Berichte über die eigenen Erfahrungen zu erstellen, und man muss darüber hinaus lernen, wie man mit denen umzugehen hat, die andere Menschen einem liefern.
Das klingt nach sehr viel Arbeit, allerdings steht auch viel auf dem Spiel. Die Kritiker der Introspektion sind nicht verstummt. Ein Behaviorist könnte behaupten, dass es zu fehlerbehaftet, zu unwissenschaftlich ist, in den Kopf anderer zu spähen, und dass wir Gedanken und Gefühle insgesamt umgehen und uns stattdessen mit Ereignissen befassen sollten, von denen wir »objektiv« berichten können. Ein Anhänger der Introspektion würde darauf antworten, dass eine Wissenschaft des Geistes, die dem subjektiven Erleben keine Beachtung schenkt, inhaltsleer und bedeutungslos ist und weit hinter dem zurückbleibt, was die Wissenschaft eigentlich leisten soll.
Dieses Problem scheint durch die Entwicklung neuer Techniken, mit denen man in das Gehirn blicken kann, noch verschärft zu werden. Das Gebiet der kognitiven Neurowissenschaft, die Methoden der Psychologie mit Techniken zur Untersuchung neuraler Systeme (mithilfe von Bildgebung, elektrischer Stimulation oder der Untersuchung von Gehirnschädigungen) kombiniert, hat in vielen Bereichen begonnen, ihr Versprechen einer einheitlichen Erforschung von Gehirn und Geist einzuhalten. Dennoch wissen wir noch immer nicht, was darin vor sich geht. Menschen können die Aktivierung ihres visuellen Kortex oder die Modulation der Amygdala durch Hippocampusaktivität nicht spüren: Sie erleben visuelle Bilder und emotionale Erinnerungen. Wenn wir uns eine integrierte Wissenschaft des Geistes wünschen, brauchen wir eine Möglichkeit, um an diese Erfahrungen heranzukommen. Wir brauchen die DES oder etwas Ähnliches.
Abgesehen davon stellt sich heraus, dass die Kritik an der Introspektion, die Nisbett und Wilson zugeschrieben wird, am Ziel ziemlich vorbeigeht. Man erinnere sich, dass ihre Abhandlung von 1977 viele Beispiele von Menschen enthielt, die nicht in der Lage waren, verlässlich zu beantworten, weshalb sie bestimmte Entscheidungen getroffen hatten. Menschen können tatsächlich sehr schlecht darin sein, die Gründe für ihr Verhalten zu benennen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht gut darin werden können, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten. Tatsächlich haben Nisbett und Wilson nach der Überprüfung vorhandener Studien die Tür für zukünftige Methoden offen gelassen, die die Aufgabe angehen könnten, mit ausreichender Sorgfalt Daten über das innere Erleben zu sammeln.
»Die Studien reichen nicht aus«, schrieben sie, »um zu beweisen, dass die Menschen über die damit verbundenen Prozesse niemals korrekt berichten können.«23 Wäre eine Methode in der Lage, einen Erlebnismoment in den Vordergrund zu rücken, ohne ihn zu СКАЧАТЬ