Traumasensitive Achtsamkeit. David Treleaven
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Traumasensitive Achtsamkeit - David Treleaven страница 10

Название: Traumasensitive Achtsamkeit

Автор: David Treleaven

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная психология

Серия:

isbn: 9783867812702

isbn:

СКАЧАТЬ Jahren nahm ich an „Step in/Step out“ teil, einer Anti-Unterdrückungsübung, die geschaffen wurde, um einem die Augen für die Allgegenwart von Trauma und Unterdrückung zu öffnen. Man stand mit 30 Teilnehmern in einem Kreis, während ein Moderator eine Liste mit bestimmten Arten von Leid vorlas. Falls eine Äußerung auf uns zutraf und wir uns gut damit fühlten, diese anderen mitzuteilen, traten wir einen Schritt in den Kreis hinein. Wenn sie nicht auf uns zutraf, blieben wir stehen und ließen die anderen, die in den Kreis hineingetreten waren, nach einigen Momenten der Stille wieder heraustreten.

      Ich kann mich an den Klang der Zikaden erinnern, der durch das offene Fenster zu uns drang, während wir im Kreis standen. „Tritt in den Kreis, wenn du Zeuge von Gewalt geworden bist“, begann unser Moderator. Eine überraschende Mehrheit von uns trat einen Schritt nach vorne. Jeder pausierte in der Mitte, hielt inne, um sich die Gesichter der anderen einzuprägen und trat wieder heraus. „Tritt ein“, fuhr der Moderator fort, „wenn du oder eines deiner Familienmitglieder emotional oder physisch misshandelt worden ist, … wenn du oder jemand, den du kennst, Inzest erlebt hat.“ Mit jeder Frage schoben sich unsere Füße in den Kreis und wieder heraus. Wir wurden gebeten, zu fühlen – nicht nur mit dem Verstand wahrzunehmen –, was uns unsere Antworten gegenseitig offenbarten.

      Am Ende der Übung hing eine schwere Stille in der Luft. Bis auf einen kannten wir alle jemanden, der vergewaltigt worden war. Fast zwei Drittel von uns kannten jemanden, der Suizid begangen hatte. Die Gesichter im Kreis offenbarten eine Mischung aus Schock, Wut, Traurigkeit und Scham. Wir hatten keine Details preisgegeben, aber wir hatten Erfahrungen geteilt, die viele von uns versteckt und außer Sicht gehalten hatten. Ich hatte bis dahin gedacht, ich sei jemand, der mit Trauma vertraut war, aber die Übung verunsicherte mich. Einige der Teilnehmer kannte ich seit Jahren und hatte dennoch offensichtlich keine Vorstellung davon gehabt, was sie durchgemacht hatten oder wovon sie Zeuge geworden waren. Für den Rest des Tages sah ich diese Menschen in einem anderen Licht. Ich hatte vergessen, dass Trauma oftmals unter der Oberfläche unseres Lebens angesiedelt ist.

      Der Psychiater Mark Epstein sprach darüber, indem er Trauma als „einen unauslöschlichen Aspekt des Lebens“ (2013, S. 3) beschrieb. Ein Blick auf die Statistiken unterstreicht diese Aussage: Geschätzte 90 Prozent der Weltbevölkerung werden im Verlauf ihres Lebens einem traumatischen Ereignis ausgesetzt sein.37 In den Vereinigten Staaten wird eines von vier Kindern körperliche Misshandlung erleben, und eines von fünf wird sexuell belästigt werden.38 Bessel van der Kolk (2014, deutsch 2015), einer der führenden Experten im Bereich der Traumaforschung, argumentiert, dass die aus einem Trauma resultierenden Auswirkungen eines der für die Allgemeinheit größten Gesundheitsrisiken unserer Zeit darstellt. Epstein behauptet, dass Trauma die Grundlage der Psychologie ist.

      Trauma kann uns schonungslos vor Augen führen, wie verletzlich wir sind. Verkehrsunfälle, Stürze und Ertrinken machen 45 Prozent der tödlichen Verletzungen aus, wobei Verkehrsunfälle jedes Jahr die weltweit häufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen sind.39 Allein in den Vereinigten Staaten werden jährlich 40 Millionen Menschen mit ernsthaften Verletzungen in die Notaufnahme eingeliefert, von denen wiederum zwei Millionen auf der Intensivstation landen.40 Ob Erdbeben oder alltägliche Unfälle, wir sind in vielerlei Hinsicht empfänglich für Trauma – besonders dann, wenn unsere materiellen Lebensumstände prekär sind.

      Zwischenmenschliche Gewalt ist eine weitere wesentliche Ursache für Trauma. Zehn Millionen Amerikaner werden jährlich von einem Intimpartner physisch misshandelt41, und alle zwei Minuten findet in den USA ein sexueller Übergriff statt 42. An einem normalen Tag gehen bei den nationalen Telefonberatungsstellen für häusliche Gewalt über 20 000 Anrufe ein 43, und die Opfer häuslicher Gewalt verlieren insgesamt über acht Millionen bezahlte Arbeitstage pro Jahr 44. Während sich die Medien, wenn sie von Trauma sprechen, vor allem auf vom Krieg heimkehrende Soldaten konzentrieren, ist es für eine trauma-bedachte Praxis unabdingbar, sich das Ausmaß des trauma-bedingten Leides in der Gesamtbevölkerung bewusst zu machen. 45

      WER ERLEBT TRAUMA?

      Lassen Sie uns für einen Moment zu Freddie Gray zurückkehren, dem jungen Afro-Amerikaner, dessen Genick im Polizeigewahrsam der Polizei von Baltimore gebrochen wurde. In den Tagen und Wochen, die Grays Tod folgten, war es unmöglich, keine Parallelen zu ähnlichen Fällen zu ziehen. In jenem Sommer tauchten monatlich, manchmal sogar wöchentlich, neue Videos auf, die einem bewusst machten, wie unverhältnismäßig hoch das Risiko war, dass Schwarze durch die amerikanische Polizei verletzt oder sogar getötet wurden. Ein Beispiel war Eric Garner, ein 43-jähriger Afro-Amerikaner, der nach einem Zwischenfall mit der New Yorker Polizei starb. In einem Video, das mit einem Mobiltelefon von Garners Freund aufgenommen worden war, konnte man einen Zivilpolizisten sehen, der versuchte, Garner wegen des Verkaufs einzelner Zigaretten zu verhaften. „Jedes Mal, wenn ihr mich seht“, hört man Garner sagen, „ versucht ihr euch mit mir anzulegen. … Jedes Mal, wenn ihr mich seht, wollt ihr mich schikanieren.“46 Nachdem der Polizist ohne Erfolg versucht hatte, Garner Handschellen anzulegen, nahm er ihn in den Würgegriff und drückte schließlich sein Gesicht auf den Bürgersteig. „Ich bekomme keine Luft“, konnte man Garner einige Male sagen hören, bevor er das Bewusstsein verlor und auf dem Weg ins Krankenhaus starb.

      Vorfälle wie dieser erinnern uns daran, dass der soziale Kontext ein Schlüsselfaktor ist, wenn es darum geht, wie stark man Stress und Gewalt ausgesetzt ist.47 Die Centers for Disease Control and Prevention berichten, dass bei schwarzen Menschen die Wahrscheinlichkeit viermal höher ist als bei weißen, bei einem Aufeinandertreffen mit Vollzugsbeamten ums Leben zu kommen.48 Während die Erfahrung von Polizeigewalt nur ein einzelnes Bespiel für Trauma ist, reflektiert sie doch ein weiterreichendes Muster von Gewalt in der Gesellschaft, die sich gezielt gegen bestimmte Gruppen von Menschen richtet. Schenkt man Garners Worten Glauben, so war er wohl wiederholt Ziel unerwünschter und ungerechtfertigter Aufmerksamkeit durch die Polizei.49

      Ein zentraler Teil trauma-bedachter Arbeit besteht darin, den sozialen Kontext von Trauma zu verstehen. Einerseits kann man natürlich Statistiken zitieren, aber es ist etwas völlig anderes, ein Verständnis dafür zu entwickeln, in welchem Ausmaß unterdrückende Systeme die menschliche Erfahrung von Not beeinflussen. Einige von Ihnen mögen über Wissen aus erster Hand verfügen, durch Lebenserfahrung oder Studium. Andere – und da schließe ich mich mit ein – sind von Unterdrückung eher verschont geblieben. Uns wurden unverdiente Privilegien mit auf den Weg gegeben, die verhindern, dass wir die Auswirkungen von Unterdrückung und systemischem Trauma sehen und anerkennen. Wir wurden dahingehend konditioniert, Trauma als eine individuelle Tragödie zu sehen, statt es als etwas zu betrachten, das mit den größeren, dominierenden Systemen, die unsere Welt gestalten, eng verknüpft ist. Wir alle müssen uns über die Auswirkungen von Trauma weiterbilden, wobei diejenigen mit mehr Privilegien stärker in der Pflicht stehen.

      Unsere Erfahrung von Naturkatastophen ist ebenfalls durch unseren sozialen Kontext geprägt. Ein schmerzhaftes Bespiel war die schreckliche Überflutung von New Orleans durch den Hurrikan Katrina. Die je nach ethnischer Zugehörigkeit unterschiedliche Erfahrung der Traumaüberlebenden war nicht zu leugnen: Afro-amerikanische Menschen, die vor der Flut geflüchtet waren, einige von ihnen in Rollstühlen oder mit Babys auf dem Arm, wurden von einer über ihre Köpfen feuernden Polizei wieder in die verseuchten Hochwassergebiete zurückgeschickt, um zu verhindern, dass sie sich in Gretna, einem mehrheitlich weißen Vorort, in Sicherheit bringen konnten. Sogar unsere Erfahrungen mit dem Wettergeschehen finden nicht im luftleeren Raum statt. Dies zu realisieren, hat nichts mit politischer Korrektheit zu tun. Es ist ein Weg, um Vertrauen, Sicherheit und Verantwortlichkeit über unsere verschiedenen Realitäten hinweg aufzubauen. Ohne diese Einsicht leben wir wortwörtlich in unterschiedlichen Welten und können keine Brücken zwischen unseren Realitäten schlagen.

      Die Bedeutung des sozialen Kontextes wird besonders bei zwischenmenschlichem Trauma deutlich.50 Wenn Sie in den Vereinigten Staaten eine Frau sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von Ihrem Intimpartner СКАЧАТЬ