Название: Traumasensitive Achtsamkeit
Автор: David Treleaven
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783867812702
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Die folgenden Monate waren grauenvoll. Seine Lehrer sahen ihn oft allein im Flur sitzen, desolat und verloren. Die Essenspakete, die ihm seine trauernde Mutter für die Mittagspause mitgab, blieben unberührt27, RJ gab das Basketballtraining auf und begann die Schule zu schwänzen, um im nahegelegenen Park Drogen zu konsumieren. Darüber hinaus entwickelte er Albträume über den Unfall und bekam Panikattacken, sobald er Jogger in seiner Nachbarschaft sah. Emotional abwesend und taub, fühlte sich RJ gefangen in einem Vakuum zwischen seinem jetzigen Leben und dem Tag, an dem er seine Schwester verloren hatte.
Stille fiel RJ am schwersten. Nachts lag er wach in seinem Zimmer und wartete darauf, seine nach Hause kommende Schwester zu hören. Er erinnerte sich an die Art, wie sie ihren Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte und dann leise zum Kühlschrank geschlichen war. In der Hoffnung, dass der Unfall nur ein Albtraum gewesen war, wartete er auf das Geräusch ihrer Schritte vor der Tür seines Zimmers. Aber sie kam nie mehr zurück.
Dies machte RJ die Achtsamkeitsmeditation unmöglich. Sobald er seine Augen schloss, fühlte er sich von der Stille und Dunkelheit überwältigt. Er versuchte seine Aufmerksamkeit auf seinen Atem zu konzentrieren, aber alles, was er sehen konnte, war das Gesichts seiner Schwester. Manchmal sah er die Straßenecke, an der sie gestorben war. Insgesamt rief die Meditationspraxis bei ihm ähnliche Symptome hervor, wie sie meine Freundin an jenem Abend im Meditationsraum erfahren hatte – ein Gefühl der Angst und des Erstickens, gepaart mit extremer Anspannung. An jenem Nachmittag waren für RJ das Verlassen des Klassenzimmers und das Einschließen in der Toilette die einzige Möglichkeit, mit der Situation umzugehen.
STRESS UND TRAUMA
Was passierte da mit RJ? Abgesehen von der verständlichen Trauer über den Verlust seiner Schwester, was war es, das diese spezifischen Symptome verursachte?
Ohne sich darüber klar zu sein, erfuhr RJ traumatischen Stress. Seine Isolation, der Appetitverlust, die erhöhte Anspannung, sein Leichtsinn und die Albträume waren alle Traumasymptome. Dasselbe galt für die Bilder seiner Schwester, die sich ihm während der Meditation aufdrängten. Trauma kann eine qualvolle, niederschmetternde Erfahrung sein, die uns verängstigt und hilflos sein lässt und uns von jeglicher Form von Leichtigkeit und Freude entfremdet – und RJ steckte mittendrin in dieser Qual.
Um traumatischen Stress besser zu verstehen, sollten wir damit beginnen, ihn zu definieren. Unsere zeitgenössische Definition dieses Begriffs stammt von Hans Selye, einem österreichisch-ungarischen Endokrinologen. Selye charakterisierte Stress als die unspezifische körperliche Antwort auf jedweden Veränderungsbedarf.28 Er erkannte, dass Stress an sich weder gut noch schlecht ist – er ist lediglich etwas, das einen Einsatz unsererseits verlangt. Unser Nervensystem unterscheidet nicht zwischen „positivem“ und „negativem“ Stress. Fahrradfahren, Autofahren oder sexuelle Aktivität sind allesamt Stressoren. Sogar gute Neuigkeiten – wie zum Beispiel die Nachricht einer erhofften Schwangerschaft oder einer Beförderung am Arbeitsplatz –, sind eine Form von Stress. Meist verbinden wir „Stress“ jedoch mit Belastung und Problemen. Endlose Arbeitstage, finanzielle Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Konflikte oder abwertende Kommentare sind allesamt Beispiele für negativen Stress. Es gibt eine ganze Industrie, die sich mit Stressreduktion befasst, und Achtsamkeit spielt darin eine tragende Rolle.
Obwohl negativer Stress sich stark auf unsere Lebensqualität auswirken kann, ist er von traumatischem Stress – der intensivsten Form von Stress, die wir erleben können – klar abgegrenzt. Traumatischer Stress resultiert aus dem Erleben eines einzelnen oder einer Reihe traumatischer Ereignisse. Viele Menschen haben multiple Traumaerfahrungen, zum Beispiel, wenn bestimmte Erlebnisse sich ständig wiederholen und, oft kollektiv, geleugnet werden. Dies kann sexuelle und häusliche Gewalt sein, „Date Rape“ oder die Art sexuellen Übergriffs, wie ich sie eingangs dieses Kapitels beschrieben habe. Darüber hinaus wird jedes Mal, wenn ein erneutes Hassverbrechen oder ein durch die Polizei verursachter Mord geschieht, durch diese fortwährende Unterdrückung traumatischer Stress erzeugt. Traumatischer Stress bezieht sich nicht immer nur auf einen einzelnen, isolierten Vorfall.
In der aktuellen fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5. Auflage, DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) wird ein traumatisches Erlebnis definiert als die tatsächliche oder gefürchtete Erfahrung, Tod, schwerer Verletzung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt zu sein. Diese Exposition kann aus dem persönlichen Erleben oder Miterleben eines traumatischen Ereignisses resultieren oder auch daraus, dass ein Familienmitglied oder ein enger Freund einem solchen Vorfall ausgesetzt war. Sie kann auch dadurch entstehen, dass man Einzelheiten dieses traumatischen Vorfalls wiederholt oder in extremer Weise ausgesetzt ist. Manchmal geschieht das im Kontext der eigenen Arbeit – wie zum Beispiel bei Ersthelfern oder medizinischem Notfallpersonal oder jedem, der sich näher mit Trauma beschäftigt.
DAS SPEKTRUM VON TRAUMA
Ein einzelnes traumatisches Erlebnis wird keine Langzeitfolgen verursachen. Es trifft uns, aber wir sind in der Lage, die Erfahrung umzuwandeln – also unsere Gedanken, Erinnerungen und Emotionen zu verarbeiten, ohne von ihnen übermannt zu werden oder in ihnen steckenzubleiben. Manchmal entwickeln wir jedoch Symptome, die über das traumatische Ereignis hinaus reichen. Dies können wiederholte Flashbacks, quälende körperliche Empfindungen oder starke Stimmungsschwankungen sein, die völlig unvermittelt auftreten. Irgendeines unserer inneren Warnsysteme schaltet nicht ab, und wenn eine traumatische Erfahrung durchkommt, richtet sie in unserem Körper und Geist Verwüstungen an.
Dies bezeichnet man als posttraumatischen Stress – eine Erfahrung, bei der traumatische Symptome über das traumatische Ereignis hinaus erlebt werden. Da wir nicht in der Lage sind, das Erlebte zu integrieren, verfolgt uns der Eindruck des Traumas bis in die Gegenwart und spielt sich dort wieder und wieder für uns ab. Posttraumatischer Stress stellt daher das Konzept, dass Zeit alle Wunden heilen kann, fundamental in Frage.
Manchmal spiegelt posttraumatischer Stress aber auch ganz direkt externe traumatische Lebensumstände. Menschen, die Unterdrückung erfahren, leben oft nicht in Sicherheit, und ihre Angst ist wohlbegründet. So haben sie oft keine Chance, mit dem Trauma abzuschließen – wie zum Beispiel bei Trauma, das aus rassistischer Gewalt resultiert oder wenn man unter einer Militärbesatzung leben muss. Und in wieder anderen Umständen waren wir einem einzelnen traumatischen Ereignis ausgesetzt und registrieren nicht, dass es vorbei ist. Symptome wie Albträume, Dissoziation und Entfremdung prägen unser Leben. Wie Brock Turners Opfer bei der Gerichtsverhandlung rekapitulierte: „Ich kann nachts nicht alleine schlafen, ohne ein Licht anzuhaben, wie eine Fünfjährige, weil ich Albträume habe … Drei Monate lang bin ich erst um sechs Uhr morgens ins Bett gegangen.“
Die Symptome von posttraumatischem Stress treten oft nicht unmittelbar zutage und sind dann entsprechend schwierig zu identifizieren oder zu artikulieren. In RJs Klassenzimmer wusste der Achtsamkeitslehrer nicht, dass RJ seine Schwester verloren hatte und was für eine Herausforderung die Meditation für ihn bedeutete. Wie viele andere Betroffene quälte RJ sich allein mit seinen Symptomen. Das Resultat ist, dass viele Traumaüberlebende bei der Bewältigung ihres Alltags zu Anstrengungen gezwungen sind, die Außenstehende gar nicht erkennen. Sie leiden kaum vorstellbare Qualen, ohne dass andere etwas davon mitbekommen. In Kapitel 5 werde ich Ihnen eine Liste zur Verfügung stellen, die dazu dient, potenzielle Anzeichen traumatischer Symptome im Kontext der Meditation zu erkennen. Im Moment möchte ich jedoch die weitreichenden Belastungen in den Vordergrund stellen, die posttraumatischer Stress den Betroffenen, ihren Familien und oft auch größeren Gemeinschaften auferlegt. Die DSM-5-Definition erinnert uns daran, dass posttraumatischer Stress auch von Menschen erlebt werden kann, die „nur“ Zeuge eines traumatischen Ereignisses geworden sind. Ein Jahr nach Freddie Grays tödlich endender СКАЧАТЬ