Über den Kopf hinaus. Werner Huemer
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Über den Kopf hinaus - Werner Huemer страница 4

Название: Über den Kopf hinaus

Автор: Werner Huemer

Издательство: Bookwire

Жанр: Математика

Серия:

isbn: 9783831257355

isbn:

СКАЧАТЬ denen – etwa vom englischen Arzt und Philosophen Robert Fludd (1574–1637) – ebenso spekulative wie falsche Karten zur Architektur des Gehirns gezeichnet wurden, in denen man annahm, dass jeglichem Denken und Fühlen bestimmte Areale zugewiesen seien und sogar ein „Diebessinn“ sowie ein „Würge- oder Mordsinn“ im Gehirn verortet wurden. Alles Unsinn – soviel ist heute klar.

      Die Gehirnforschung erlebte gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch den Einsatz computerunterstützter Bildgebungsverfahren einen entscheidenden Durchbruch. Denn seither ist es möglich, die Vorgänge im Kopf, die Auswirkungen des Denkens und Fühlens am lebenden Menschen zu beobachten.

      Dadurch erfahren wir immer detaillierter, wie unser Denk- und Steuerorgan wirklich „tickt“. So haben die Entdeckungsreisen in das schier endlos verzweigte und dabei sich unaufhörlich neu formende Labyrinth in unserem Schädel gezeigt, dass es nur sehr wenige Leistungen gibt, die eindeutig ganz bestimmten Hirnregionen zugeordnet werden können – etwa die Bewegungskoordination. Meist sind neuronale Netze aktiv, die sich über weite Teile des Gehirns spannen. Diese Tatsache macht es von vornherein schwierig, aus der Messung von Gehirnströmen auf Denkprozesse zu schließen.

      Dennoch erzielte die Forschung gerade in diesem Bereich in jüngster Zeit große Fortschritte – und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch im Hinblick auf praktische Anwendungen. Einige revolutionäre medizintechnische Entwicklungen nutzen inzwischen Gehirnströme, um Geräte zu steuern. Es ist zum Beispiel möglich, allein durch die „Kraft der Gedenken“ Prothesen für Arme und Hände zu verwenden. Muskelgruppen können dabei so gezielt angesteuert werden, dass hochgradig gelähmten Menschen, die auch Ellbogen und Schulter nicht mehr selbsttätig bewegen können, das so entscheidend wichtige Greifen mit der Hand wieder ermöglicht wird.

      Zu den diesbezüglich führenden Forschungseinrichtungen zählt das „Institut für semantische Datenanalyse“ an der Technischen Universität Graz. Die Pionierarbeit, die hier geleistet wird, hat entscheidend dazu beigetragen, dass manches, das man vor wenigen Jahren noch als pure Science-fiction bezeichnet hätte, mittlerweile Realität geworden ist.

      Professor Gernot Müller-Putz, Leiter dieser Forschungsarbeiten, befriedigte im folgenden Gespräch, das ich im Herbst 2012 mit ihm führen konnte, freundlicherweise meine Neugier über den Stand der Dinge:

       Sie arbeiten mit Ihrem Team im Institut für Semantische Datenanalyse an Möglichkeiten, nur mit Hilfe von Gedanken Computer und Geräte zu steuern. Was geschieht dabei? Haben Sie den Schlüssel zum Gedankenlesen gefunden?

      Müller-Putz:

      „Den Schlüssel zum Gedankenlesen haben wir nicht. Wir verwenden aber sehr wohl das Denken, um verschiedene Geräte und Anwendungen zu steuern, indem wir Denkmuster herausfinden. Das funktioniert im wesentlichen so, dass Patienten oder Benutzer durch verschiedene Gedanken Gehirnmuster erzeugen, die wir dann durch Messungen erkennen. Wenn man zum Beispiel weiß, dass der Benutzer entweder an eine Handbewegung denkt oder an eine Fußbewegung, dann kann man daraus ein Steuersignal erzeugen und damit eine Computeranwendung, zum Beispiel ein Schreibprogramm, steuern. Patienten mit schweren motorischen Beeinträchtigungen sollen dadurch wieder kommunizieren, schreiben, im Internet surfen können oder ihre Umwelt steuern.“

       Ein wesentliches Ziel ist also, Menschen mit Bewegungsbeeinträchtigungen zu helfen. Befragungen von hochgradig querschnittgelähmten Menschen brachten ja immer wieder zum Ausdruck, dass das Greifenkönnen für sie eines der wichtigsten Anliegen ist und ihre Lebensqualität auch entscheidend verbessern würde. Ist eine solche Technologie, dass ein Patient also nur mit Hilfe von Gedankenkraft im Alltag wieder greifen kann, in Sicht?

      Müller-Putz:

      „Ja, das Greifen ist ganz wichtig. Man macht so viele Dinge unbewusst mit den Händen, und wenn das plötzlich alles wegfällt, dann bricht eine Welt zusammen. Wenn man also für Patienten mit sehr hohen Querschnittlähmungen ein einfaches Greifen wieder herstellen könnte, dann würden diese Menschen viel von ihrer Eigenständigkeit zurückbekommen. Wie kann man das machen?

      Man kann es sich so vorstellen, dass man mit Hilfe der funktionellen Elektrostimulation, also durch Muskelstimulation, den gelähmten Arm ansteuert und ein einfaches Greifen erzeugt. Der Patient kann also durch die sogenannte Neuroprothetik seine Hand öffnen und die Finger wieder schließen, also etwas angreifen, und diese Neuroprothetik muss irgendwie angesteuert werden. Das könnte man mit einem Schalter machen, der am Körper angebracht ist. Wenn Patienten aber auch Schulter und Ellbogen nicht mehr bewegen können, dann gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten, wie man ein solches Steuersignal erzeugen kann, und deshalb kommt unsere Arbeitsgruppe ins Spiel. Wir wollen das Denken an die Bewegung in eine tatsächliche Bewegung des gelähmten Arms umsetzen.“

       Ihr Team arbeitet auch an verschiedenen EU-Forschungsprojekten mit. Eines davon hat den Titel „Brainable“. Dabei geht es um die Entwicklung einer möglichst komfortablen „Mensch-Computer-Schnittstelle“ mit dem Ziel, dass man allein durch die Gehirntätigkeit befähigt ist, bestimmte Handlungen vorzunehmen. Geht es dabei auch um medizinische Anwendungen?

      Müller-Putz:

      „Ja, die EU-Projekte, an denen wir arbeiten, haben alle medizinische Zielsetzungen. Das, von dem ich vorhin gesprochen habe, fällt unter das EU-Projekt „TOBI“ – Tools für Brain Computer Interaction. Im EU-Projekt „Brainable“ geht es darum, beeinträchtigte Menschen mit einer Steuerung für ihre Umwelt auszustatten. Das heißt, dass diese Patienten wieder eine Kontrolle über ihre Umwelt bekommen, dass sie beispielsweise das Internet oder generell IT-Techniken benutzen können, also E-Mails schreiben, Internetsurfen, twittern, aber auch ihre Umgebung steuern. Diese Patienten können ja zum Beispiel nicht einfach hingehen und das Licht einschalten. Aber assistierende Technologien, die von einem „Brain Computer Interface“ angesteuert werden, können das machen. Das heißt, ich wähle beispielsweise den Befehl aus: „Licht einschalten“ oder: „Jalousie herunterfahren“ oder ich wähle einen bestimmten Film aus, den ich mir gerne anschauen möchte – in diese Richtung geht das „Brainable“-Projekt.“

       Es gibt auch schwerkranke Menschen, die praktisch keinen Kontakt mehr zur Außenwelt haben, Stichwort Wachkomapatienten. Bei diesen Patienten gibt es ja immer wieder Fälle tragischer Fehldiagnosen. Man nimmt an, dass solche Menschen von ihrer Außenwelt gar nichts mehr mitbekommen, und stellt irgendwann doch fest, dass ein bestimmter Grad von Bewusstsein noch vorhanden ist. Sehen Sie technische Möglichkeiten, bessere Diagnosewerkzeuge für solche Wachkomapatienten herzustellen, die auch gezielt mit den Gehirnströmen arbeiten?

      Müller-Putz:

      „Ja, es gibt ein Projekt mit dem Namen „Decoder“. Hier geht es genau darum, ein Diagnosetool zu schaffen, um eben festzustellen, ob Patienten noch Bewusstsein, ein Restbewusstsein oder fallweise ein Bewusstsein haben oder ob sie definitiv kein Bewusstsein mehr haben und sich in einem vegetativen Zustand befinden. Dafür benötigt man dringend ein Diagnosetool.“

       Und was macht man, um Bewusstsein zweifelsfrei festzustellen oder auszuschließen?

      Müller-Putz:

      „Man kann bestimmte Gehirnfunktionen mit ganz einfachen Experimenten überprüfen. Zum Beispiel kann man feststellen, ob ein Patient verschiedene Pieptöne unterscheiden kann. Wenn man weiß, dass sein Hirn das kann, dann kann man den Schwierigkeitsgrad etwas erhöhen und zum Beispiel Sätze vorgeben, die entweder semantisch richtig oder semantisch falsch sind … Grundsätzlich startet man mit ‚passiven Paradigmen‘, wo also der Patient nur zum Zuhören eingeladen wird, und dann gibt es noch die aktiven Paradigmen, wo man zum Beispiel sagt: ‚Bitte zählen Sie die Pieptöne, die von den normalen Pieptönen abweichen‘.

      Man kann СКАЧАТЬ