Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie. Daniel Siegel
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Название: Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

Автор: Daniel Siegel

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная психология

Серия:

isbn: 9783867813372

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СКАЧАТЬ Top-down-Modus mit dem Bottom-up-Modus kann unmittelbar beeinflussen, welcher mentalen Aktivitäten wir uns im gegenwärtigen Moment gewahr sind (s. Abb. G). Der präfrontale Cortex*, insbesondere die dorsolaterale präfrontale Region an den Seiten, spielt eine wichtige Rolle, wenn wir in unserem Arbeitsgedächtnis etwas auf die Tafel schreiben, damit es im kurzfristigen, vorübergehenden Speicher* der Erinnerungen* aufbewahrt wird. So scheinen wir etwas in unseren Gedanken halten zu können, damit wir im Gewahrsein – im Arbeitsgedächtnis – darüber reflektieren können. Wir sind auch in der Lage diesen Inhalt unseres Gewahrseins zu manipulieren und die Ergebnisse solch einer verfeinerten Informationsverarbeitung zu codieren*, damit wir sie speichern können und so in der Zukunft verfügbar haben.

      Wir können den Menschen beibringen, Formen des Gewahrseins zu entwickeln, die sie darin bestärken, Integration in ihrem Leben zu schaffen. Das bedeutet, dass Gewahrsein das Tor ist, um die Differenzierung* anderer zu fördern und zu respektieren. Darüber hinaus können wir durch mitfühlende* und empathische* Kommunikation Verknüpfungen* kultivieren, die den Kern lebendiger Beziehungen bilden. Der Ansatz der Interpersonellen Neurobiologie sieht das Gewahrsein als Tor zur Veränderung, weil es die Möglichkeit eröffnet, den Energie- und Informationsfluss in neuer und integrativer Weise zu kanalisieren. Das Gewahrsein und das Wissen über das Gehirn können kraftvolle Elemente sein, um die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte des Nervensystems zu fördern. Auf diese Weise kann der Geist durch den bestärkenden Prozess des Gewahrseins in seinen beiden Aspekten – dem Gehirn und den Beziehungen – den Energie- und Informationsfluss regulieren.

      Obwohl wir nicht genau wissen, was Gewahrsein „ist“, so wissen wir doch, dass Gewahrsein ein aktiver Bestandteil jeder Form von Pädagogik und Psychotherapie ist. Mithilfe des Gewahrseins wird die explizite Erinnerung* als eine flexiblere und adaptive Form des Top-down-Lernens angewendet. Durch das Gewahrsein können Narrative* entstehen, durch die wir ansonsten verwirrenden Erfahrungen einen Sinn geben* können. Wenn Eltern ihren Kinder bei der Ko-Konstruktion ihrer Lebensgeschichten mit Gewahrsein begegnen, ermöglichen sie den Kindern, ihren Erfahrungen einen Sinn zu geben und die Tore zu bleibender Veränderung zu öffnen. Gewahrsein ist vermutlich grundlegend für das Wohlbefinden, und es ist ein Mittel des Geistes, das die Bewegung unserer Beziehungen und unseres Gehirns in Richtung Integration leitet.

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      Achtsames Gewahrsein

      Worum geht es?

      Achtsames Gewahrsein* kann als eine Form des Gewahrseins* beschrieben werden, in dem wir wach und offen für gegenwärtige Erfahrungen sind, ohne uns von Urteilen oder Vorannahmen ablenken zu lassen. Was es wirklich bedeutet, achtsam zu sein, ist ein Thema fortwährender Diskussionen. Aber die allgemeine Bedeutung des Begriffes zeigt sich in der Vorstellung, dass wir einem inneren oder äußeren Moment der Erfahrung vollkommen präsent, offen und akzeptierend begegnen können. Im Gegensatz dazu kann der Begriff „Gewahrsein“ allein auch auf eine Form des Wissens hindeuten, die nicht achtsam ist, weil wir uns vorurteilsvoller Überzeugungen gewahr sind. Aus diesen Überzeugungen heraus können wir dann aufgrund der bestehenden mentalen Modelle der Feinseligkeit auf feindselige Weise handeln. In diesem Fall sind wir möglicherweise vollkommen gewahr, aber wir sind nicht achtsam gewahr, weil wir nicht offen und akzeptierend sind. Stattdessen sind wir voller Vorurteile. Deshalb schließen einige Interpretationen des achtsamen Gewahrseins – und die Art und Weise, wie wir es in der Interpersonellen Neurobiologie* anwenden – auch die Unterscheidungsfähigkeit und eine moralische Haltung mit ein. Diese Haltung ist durch eine positive Wertschätzung anderer gekennzeichnet, ein nicht-urteilendes Gewahrsein, dessen zentrales Merkmal Akzeptanz und Mitgefühl* gegenüber dem Selbst* und anderen ist. Einige Auffassungen von achtsamem Gewahrsein begrenzen die Idee der Achtsamkeit auf einen Aspekt, den Fokus der Aufmerksamkeit*, darauf, dass der Fokus der Aufmerksamkeit in einer offenen Art und Weise auf das Hier und Jetzt gerichtet ist. Nach diesem Verständnis sollten wir Eigenschaften wie Mitgefühl und freundlicher Wertschätzung anderen Ideen wie Selbstmitgefühl, Empathie* und Moral* zuordnen und sie nicht mit achtsamem Gewahrsein vermischen.

      Achtsames Gewahrsein kann ein natürlicher Aspekt des eigenen Lebens sein oder es kann durch Übungen wie Meditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong oder Herzensgebet entwickelt werden. Um diese Unterscheidung hervorzuheben, können wir von einem achtsamen Zustand* und einer achtsamen Charaktereigenschaft sprechen. Ein Zustand ist eine zeitweilige Aktivierung mentaler oder neuronaler Prozesse*, etwa ein Geisteszustand*, der von Moment zu Moment kommt oder geht. Eine Eigenschaft ist eine sich wiederholende Seinsweise, sie kann ein gewohnheitsmäßiges Muster oder eine natürliche Weise der Interaktion mit der Welt sein. Die Begriffe „Achtsamkeit“ und „achtsame Charaktereigenschaften“ werden in der wissenschaftlichen Fachliteratur auf verschiedene Weise benutzt. Diese Begriffe können auf eine Seinsweise und auf messbare, bleibende Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen hindeuten. Studien über achtsame Charaktereigenschaften zeigen beispielsweise Elemente eines nicht-urteilenden, nicht-reaktiven Gewahrseins für die Erfahrung von Moment zu Moment. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die innere Welt zu bezeichnen und zu beschreiben. Bei Menschen, die Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder Yoga praktizieren, wurde zusätzlich die Fähigkeit der Selbstbeobachtung festgestellt.

      Ob es sich nun um einen Zustand oder eine Charaktereigenschaft handelt, die genaue Bedeutung des Begriffes „achtsam“, wenn er diesen Aspekten hinzugefügt wird, befindet sich momentan noch in einem Prozess der Klärung. Es wird sich zeigen, auf welche genaue Definition und Terminologie man sich letztendlich einigen wird, aber eine große Anzahl von Studien zeigt, dass die Fähigkeit, sich der Erfahrung von Moment zu Moment gewahr zu werden, und die Fähigkeit, ablenkende automatische Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Verhaltensweisen loszulassen und zum Sein in der Gegenwart zurückzukommen, gut für die eigene Gesundheit* und sogar gut für die Gesundheit anderer ist. Studien über achtsames Gewahrsein, die ein breites Spektrum von Anwendungen dieser Merkmale nutzen, zeigen, dass Achtsamkeit gut für die Gesundheit des Geistes* ist, weil die Emotionsregulation* ausgeglichen und die Flexibilität verstärkt wird. Zudem lässt sich erkennen, dass Achtsamkeit Menschen hilft, sich schwierigen Ereignissen zuzuwenden, statt sich davor zurückzuziehen. Wenn wir achtsam sind, können wir empathischer sein und die Gesundheit unserer Beziehungen* verbessert sich. Achtsamkeit verbessert auch die Gesundheit des Körpers, durch eine Stärkung der Immunfunktion und eine Zunahme der Telomerase – die Enzyme, aus denen die Telomere an den Enden der Chromosomen bestehen, und die die zelluläre Langlebigkeit verbessern. Durch Achtsamkeit können wir sogar eine stärkere Resilienz* im Angesicht chronischer Schmerzen entwickeln. Das achtsame Gewahrsein unterstützt unseren Geist, unsere Beziehungen und unser verkörpertes* Leben.

      Implikationen: Was bedeutet achtsames Gewahrsein für unser Leben?

      Die Vorteile für unsere Gesundheit, die wir durch achtsames Gewahrsein erfahren, legen nahe, dass es ein guter, grundlegender und wichtiger Aspekt unseres Lebens sein kann. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, wie wir zu einer spezifischen Definition dieser Seinsweise kommen. Die Fähigkeit, in unserem Leben präsent zu sein, ist gut für uns. Angesichts der Tatsache, dass es Übungen des achtsamen Gewahrseins* für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt, zeigt sich ein wirkungsvolles Potential für die Verbesserung des Wohlbefindens und der Resilienz über die ganze Lebensspanne hinweg. Die Unterstützung bei der absichtsvollen Schaffung achtsamer Zustände über längere Zeit kann der wichtigste Weg sein, um im Leben eines Menschen achtsame Charaktereigenschaften zu kultivieren, die Resilienz und Wohlbefinden fördern.

      Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist Achtsamkeit ein zutiefst integrativer Prozess im Geist, im Gehirn* und in unseren Beziehungen. Das ist auch der Grund, warum wir der Ansicht sind, dass das achtsame Gewahrsein mit Wohlbefinden einhergeht, und deshalb können wir auch sagen, dass die Vermittlung von Fertigkeiten, die Achtsamkeit unterstützen, ein Weg ist, um Integration* zu fördern. Weil Integration das Herz der Gesundheit ist, СКАЧАТЬ