Название: Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie
Автор: Daniel Siegel
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783867813372
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In Beziehungen innerhalb von Familien kann man die intergenerationale Weitergabe von Kommunikationsmustern erkennen. Sie werden durch wiederholte Erfahrungen von Austauschmustern des Energie- und Informationsflusses verstärkt. Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Epigenetik* haben auch gezeigt, das Veränderungen in den Kontrollmolekülen, welche die Genexpression regulieren* auch eine wichtige Rolle bei dieser intergenerationalen Weitergabe von Kommunikationsmustern spielen. Beispielsweise kann die Erfahrung von extremem Stress* in einer Generation durch die Geschlechtszellen – das Ei und die Spermien – weitergegeben werden, wodurch in zukünftigen Generationen die Fähigkeit zu Stressregulation möglicherweise gestört ist. Diese epigenetischen Veränderungen können sich direkt auf die Teile des zentralen Nervensystems auswirken, die die Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden-Achse (HPA) kontrollieren. Dadurch kann die Freisetzung des Stresshormons Cortisol nicht mehr angemessen reguliert werden. Wenn dies geschieht, verstärkt sich der kumulative Effekt von Stressoren auf das Individuum, der auch als allostatische Last bezeichnet wird. Ohne eine ausgeglichene neuronale Kontrolle kann das System* der Familie weiterhin die Fehlregulation von emotionalen* Reaktionen fortsetzen und diese Muster können die Entwicklung von gesunder* Regulation innerhalb des Familiensystems stören. Wenn eine Generation überwältigende Erlebnisse durchgemacht hat, eine Hungersnot oder einen Genozid zum Beispiel, ist es möglich, dass die Kinder und sogar die Enkel regulative epigenetische Faktoren geerbt haben, die die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, schwächen. Wir werden nicht nur durch das Verhalten oder durch Geschichten, die wir hören, beeinflusst, sondern auch durch die regulativen Moleküle, die die Genexpression in Bereichen des Gehirns* kontrollieren, welche so wichtige Funktionen wie unsere Stressreaktion erfüllen.
Aus einer Makro-Perspektive der größeren Systeme können wir wahrnehmen, dass unsere Gesellschaft durch den Austausch eines Energie- und Informationsfluss funktioniert. Dies bezeichnen wir als Kultur* und durch die Perspektive der Interpersonellen Neurobiologie* können wir ihre Wirkungsweise verstehen: Energie- und Informationsmuster werden in unserer Gesellschaft durch Kommunikation zwischen Menschen, durch die symbolischen Elemente der Medien und durch die Methoden der Interaktion innerhalb verschiedener Gruppen ausgetauscht. Der Kontext* der Kultur formt direkt unseren Geist, denn die Kultur ist ein relationaler* Prozess*, der grundlegend für die Funktion des Geistes und die Entwicklung des Gehirns ist.
Wenn wir den Geist als relationalen Prozess betrachten, sind wir fähig, die Interaktionen der wechselseitigen Kommunikation innerhalb von Dyaden, Familien, Schulen, Gemeinschaften und unserer gesamten Gesellschaft als wichtige Aspekte der Entwicklung des Geistes im Verlauf der Zeit und auch hinsichtlich seiner Funktionsweise in der Gegenwart zu sehen. Gemäß dieser Sichtweise sind der Geist, die Beziehungen und das Gehirn Teil einer Wirklichkeit: sie sind ein Energie- und Informationsfluss. Wer wir sind, ist nicht unabhängig von unseren Beziehungen oder von unserem verkörperten Gehirn, sondern wir entstehen genau daraus. Kultur ist keine „Hinzufügung“, die nur Experten verstehen können, sondern es ist die relationale Matrix, in der sich der Geist entwickelt. Lehrer, Kliniker und Eltern – in der Tat wir alle – können die Kraft der Beziehungen nutzen, um das gesunde Wachstum anderer zu fördern. Wir können auch zu „kulturellen Evolutionisten “ werden, die in unseren modernen Gesellschaften die Bedingungen für gesunde Beziehungen schaffen. Hier können wir vorschlagen, dass eine gesunde Beziehung an der Würdigung von Unterschieden zwischen Menschen und der Kultivierung ihrer Verknüpfung* durch mitfühlende, respektvolle Kommunikation erkennbar ist. In buchstäblich allen Dimensionen der Interpersonellen Neurobiologie werden wir diese Erkenntnis wiederfinden: Gesundheit entsteht durch die Verknüpfung differenzierter* Teile eines Systems. Daran sehen wir, dass Integration* die Grundlage guter Gesundheit ist.
Wenn eine Beziehung integriert ist, dann bewegt sie sich in Harmonie. Das hört sich gut an, aber was genau ist eine integrierte Beziehung? In einer Beziehung besteht Integration aus der Kultivierung mitfühlender Kommunikation, welche die Innenwelten zweier Menschen in einen engen Kontakt bringt. Integration ist die Verknüpfung differenzierter Teile, deshalb werden integrierte Beziehungen durch die Wertschätzung von Unterschieden und die Förderung mitfühlender Verbindungen gekennzeichnet. Solch eine Beziehung zeigt das Merkmal der integrativen Kommunikation*, in der die Innenwelt jedes Menschen – der subjektive Aspekt des Geistes – für seine einzigartigen Eigenschaften gewürdigt wird und in fürsorglicher Kommunikation verbunden ist.
Integration ist etwas anderes als Vermischung. Integration setzt voraus, dass wir Elemente unseres differenzierten Selbst aufrechterhalten, während wir auch unsere Verknüpfung stärken. Zu einem Teil eines „Wir“ zu werden, bedeutet nicht, dass wir unser „Ich“ verlieren. Integration als ein Schwerpunkt der Intervention in einem ganzen Spektrum von Integrationsbereichen* wird zur fundamentalen Grundlage dafür, wie wir die Prinzipien der Interpersonellen Neurobiologie in der Förderung gesunder Beziehungen anwenden können.
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Gehirn und Körper
Worum geht es?
Das Gehirn* ist ein Begriff, der meist verwendet wird, um ein Organ des Körpers zu bezeichnen, das sich im Schädel befindet und Milliarden von Zellen enthält, die in verschiedenen Gruppen angeordnet sind. Diese Ansammlung von Zellen, der obere Teil des zentralen Nervensystems, den wir meist als Gehirn bezeichnen, ist durch das periphere Nervensystem und all die Signale aus den physiologischen Prozessen* untrennbar mit dem ganzen Körper verbunden. Die Informationen aus dem erweiterten Nervensystem* haben eine unmittelbare Wirkung darauf, wie die im Schädel befindlichen Zellen, oder das „Kopfgehirn“, funktionieren. Hormonelle Informationen aus dem Blutkreislauf formen die Hirnprozesse ebenso wie das Immunsystem. Die Annahme, dass „das Gehirn“ von diesen vielfältigen Informationseingaben des ganzen Körpers unabhängig sei, scheint auf falschen Grundlagen zu beruhen. Aus diesem Grund benutzen wir in der Interpersonellen Neurobiologie* den einfachen Begriff „Gehirn“ als eine Abkürzung für die neuronalen Mechanismen des gesamten Energie- und Informationsflusses*, der sich durch die weitverzweigten wechselseitigen Verbindungen des Körpers und die im Schädel befindlichen Ansammlungen von Zellen bewegt. Kurz gefasst, mit „Gehirn“ bezeichnen wir die verkörperten* Mechanismen des Energie- und Informationsflusses im Körper.
Implikationen: Was bedeuten das Gehirn und der Körper für unser Leben?
Das Wissen über das Gehirn ermöglicht es uns, Verwirrung in Einsicht* und Selbstbeschuldigungen in Selbstmitgefühl zu wandeln. Wenn wir andere und uns selbst etwas über die Mechanismen des Energie- und Informationsflusses im Gehirn lehren, wird der Geist gestärkt. Dies wird möglich, weil wir dem Selbst* nicht mehr die Schuld an automatischen Verhaltensweisen geben, sondern stattdessen unsere Erfahrung in Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung verwandeln. Eine weitverbreitete Reaktion von Menschen, die etwas über das Gehirn gelernt haben, ist folgende: „Es mag nicht mein Fehler gewesen sein, weil mein Gehirn dies getan hat, aber es liegt in meiner Verantwortung, etwas zu verändern.“ Selbst kleine Kinder können lernen, wie der Energie- und Informationsfluss sich durch die Mechanismen des Gehirns bewegt. Das ist der „verkörperte“ Aspekt der relationalen* und verkörperten Natur des Geistes.
Wenn wir die verschiedenen Teile des Gehirns kennenlernen, werden wir darin bestärkt, nicht mehr länger nur passiv festzustellen, was das Gehirn für unser Leben vorgesehen hat, sondern wir werden zu den aktiven Autoren unserer eigenen, sich entfaltenden Geschichten, СКАЧАТЬ