Название: Der Sound Gottes
Автор: Rainer Bayreuther
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783532600849
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Gehen wir in die Worship-Szene, scheint es beim ersten Hinhören ein paar Freiheitsgrade mehr zu geben. Die Strophen sind amorpher, das Kreiseln zwischen Strophe und Refrain uferloser. Die Hook kommt öfter und flashartig. Von der Unendlichkeit der Sphärenharmonie aber sind auch diese Songs weit weg. Nach sechs, sieben Minuten spätestens ist der Track abgelaufen. Die Musik und die Bühnenscheinwerfer stellt er gleich mit aus, sie sind in die Playersoftware integriert. Und nüchtern auf dem Papier betrachtet sind es die drei oder vier immer gleichen Textbausteine, die in einem Worship-Song scheinbar endlos zusammengesteckt werden, bis dann der Pastor langsam aus dem Off auf die Bühne tritt und signalisiert, jetzt bin ich dran. Ein Worship-Song ist und bleibt ein Song, die mosaikartige Kleinteiligkeit mag Unendlichkeit suggerieren, wie sie will.
Es wäre ungerecht zu behaupten, die Kirchenmusikgeschichte sei mit Liedern verstopft. Gewiss gibt es abendfüllende Oratorien, die nicht nur wiederum aus Songs bestehen wie die abendfüllenden christlichen Musicals. Aber sie sind an den sozialen und räumlichen Rand der Kirche gedrängt und stehen mit einem Bein im Verein und im Konzertsaal. Es gibt gewiss ausufernde Orgelfantasien, die mit einem Lied formal nichts zu tun haben, sofern sie nicht in der Fantastik doch einen cantus firmus verstecken. Aber auch sie stehen am Rand des Gottesdiensts. Mit einem Bein vor dem Gottesdienstbeginn und mit dem anderen nach dem Gottesdienstende bevölkern sie den Transitbereich zwischen Kirche und Außenwelt. Mittendrin stehen die Lieder. Fakt ist, in der Herzkammer der evangelischen Frömmigkeit gibt es Lieder, Lieder, nichts als Lieder.
Wieder einmal Luther also hat uns das eingebrockt, als er an die Stelle der Stücke der katholischen Messliturgie Lieder setzte. Bereits in der Formula missae et communionis von 1523 empfiehlt er, liturgische Stücke wie das Graduale, das Sanctus und das Agnus dei durch ein deutsches Lied mindestens zu ergänzen. Gesucht seien fähige Poeten, die entsprechende deutsche Texte liefern könnten. Dass neue Texte liedförmig sein und nichts mehr mit der Prosa der katholischen Liturgie zu tun haben würden, muss er nicht eigens dazusagen. Seine eigenen Gesänge, die er in der Deutschen Messe von 1526 dann vorschlägt, sind, wenig überraschend: Lieder.
Wir haben klar ins Auge zu fassen, welcher Paradigmenwechsel in der Performanz des Wortes Gottes hier stattfindet. Die katholische Liturgie der Messe und der Stundengebete war immer schon portioniert in Stücke, die eine ähnliche Länge haben wie ein Lied. Aber es gibt zwei fundamentale Unterschiede: Sie hat erstens keine Form, die die poetische Gesamtstruktur eines Stücks regeln würde analog zur poetischen Struktur einer Liedstrophe. Ihre Form ergibt sich nicht aus einem poetischen Text; die textliche Materialität ist die mehr oder weniger naturbelassene Bibelprosa. Aber auch eine poetische Textgestaltung hätte auf die relevanten performativen Formmerkmale des liturgischen Stücks keinen Einfluss. Sie ergibt sich aus einem geregelten Wechsel von Sprechern und der Sprechhaltungen. Und zweitens lässt sie dem Liturgen keine Wahlfreiheit, ob heute dieses oder jenes Stück besser passt. Anders als das protestantische Bausteinverfahren hat sie aus Prinzip keinerlei Neigung, auf die Situation vor Ort einzugehen. Sie sieht für einen bestimmten Termin im Kirchenjahr ein bestimmtes Stückchen göttliche Offenbarung vor, die ohne Anpassung an die Situation vor Ort zur Erscheinung gebracht wird. Man kann darin eine kuriose und konsequente Art sehen, den Vorhang vom Gottesreich zu lüften.
Lieder sind diesem liturgischen Denken fremd. Die ganze historische Wahrheit ist zwar ein bisschen komplizierter, aber eben nur ein bisschen, und am Ende werden wir wieder bei der Sentenz landen: Die Lieder des evangelischen Gottesdiensts sind keine göttliche Offenbarung. Sie stehen grundsätzlich auf der anderen Seite, der menschlichen. Und das nicht nur aus katholischer Sicht, sondern in einer viel grundlegenderen Perspektive.
Zur historischen Wahrheit gehört, dass die katholische Kirche seit je Lieder in den Gottesdienst aufnahm. In jedem Stundengebet wird ein Hymnus gesungen. Die Antiphonen, die den Psalmversen entgegengestellt werden, haben manchmal eine liedartige Poetik. Je deutlicher aber die Liedhaftigkeit ist, desto tiefer wird die Bipolarität von Vers und Antiphon unterminiert und die Antiphon zu einem selbstständigen Stück, so bei den Marianischen Antiphonen, die letztlich Lieder sind. Weiter, jedem liturgischen Stück kann ein Lied folgen. Das singt dann allerdings die Gemeinde. Es ist eine Antwort des Christenmenschen, während die Psalmverse und ihre Gegenverse nie humane Antwort sind, sondern göttliche Sage, die der Antwort immer schon vorausgeht. Daher sind Lieder stets Einlagen, die aus der Sicht der katholischen Liturgie spontane kollektive Exklamationen darstellen und nicht im Formular auftauchen.
Es sind diese bislang fakultativen Liedeinlagen, die Luther an die obligatorischen Stellen der Liturgie rückt. Er rückt die humane Antwort an die Stelle der göttlichen Sage. Selbst die Psalmen wandelt er um in Psalmlieder. Die lutherischen Psalmlieder sind der Gipfel der evangelischen Verkehrung der Liturgie ins Liedhafte. Am liebsten hätte Luther aus dem gesamten biblischen Psalter ein Liederbuch in deutschem Reim und Metrum gemacht, hätte er die Dichter an der Hand, wie er in einem Brief beklagt. All das liegt freilich in der Konsequenz der lutherischen Wort-Gottes-Theologie. Spätere Protestanten wie Johann Wilhelm Petersen, deren lutherische Zuverlässigkeit nicht ohne Grund angezweifelt wurde, versuchen den lutherischen Liederwahn zu verwinden und sich wieder zum Psalm zu kehren, indem sie psalmartig dichten und alles Liedgemäße tunlich meiden. Man kann nicht sagen, dies hätte die Songification der protestantischen Frömmigkeit nennenswert aufgehalten.
Die katholische Perspektive ist nicht das Maß der Dinge. Erst recht nicht die lutherische, die in das kolossale Missverständnis verstrickt ist, mit einer ungeheuren Masse Liedern von der humanen Seite gegen die feste Burg Gottes anzurennen und immer neue Massen zu produzieren, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Kirchliches Maßnehmen müssen wir überhaupt zurückweisen, wenn es um Kirchenmusik geht. Wir involvierten sie sonst bloß in die jeweiligen Zeitgeister und Selffulfilling Prophecies der Kirche.
Das Maß der Dinge sind auch nicht Bibelstellen. Sie fordern uns zum Gottesdienst bald mit Liedern, bald mit einem neuen Lied, bald mit Pauken und Posaunen, bald mit Psalter und Harfe auf. Daraus ist keine musikalische und keine theologische Klarheit zu gewinnen. Zum Maß der Dinge dringen wir vor, wenn wir die Gattung Lied als solche befragen und eventuell weitere Gattungen zum Vergleich. Das heißt herauszufinden, wie sich Mensch und Erde zueinander verhalten, wenn der Mensch Lieder singt – oder im Vergleich, wenn er anders singt. Einen Weg dahin weisen uns die Griechen.
Die Griechen denken die Musik nicht von der Religion her. Schon gar nicht denken sie sie vom Menschen her. Sie denken vielmehr in ereignisförmigen Konstellationen von Erde, Mensch und Klang. Musik und Religion sind in ungeschiedener Einheit. Das meint nichts Statisches. Vielmehr ist gemeint, dass sie aus ein und demselben Ereignis hervorgehen. Das Ereignis kann unterschiedlich ablaufen, und je nachdem, wie es abläuft, gehen unterschiedliche Musiken und unterschiedliche religiöse Konstellationen – nicht Religionen – daraus hervor.
Bei den Griechen sind episches und melisches Singen unterschieden. Es resultiert in zwei Arten von Werken, einmal dem gesungenen Erzählen, dem Epos, einmal dem gesungenen Lied, dem Melos. Sie fügen den Sänger, das Gesungene, die Erde und den Gott in unterschiedlicher Weise ineinander. Bei beiden sind die Götter im Spiel, nicht nur je nach Sujet, sondern konstitutiv. Der menschliche Sänger muss den Gott anrufen, um überhaupt Musik zugesungen zu bekommen. Das steht am Beginn des Epos und des Melos. Man betet nicht erst und fängt dann an zu singen. Im Singen selber wird der Gott angerufen. Der Götteranruf am, nicht vor Beginn des Gesangs blendet also zwei Vorgänge ineins, das Gebet an den Gott um Gabe des Gesangs und die Gebetserhörung der gewährten Gabe des Gesangs. Warum diese Überblendung funktioniert, ist eines der tiefsten Geheimnisse der Kirchenmusik und der Musik überhaupt. Weil die Überblendung funktioniert, ist die Unterscheidung in kirchliche und СКАЧАТЬ