Название: Der Sound Gottes
Автор: Rainer Bayreuther
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783532600849
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Einen Königsweg aus dem infiniten Regress des Erkenntniszweifels hat die lutherische Theologie nicht. Ihr bleibt nichts übrig, als den Regress mit langem Atem weiter und weiter zu laufen und immer und immer wieder das Bibelwort, die einzige greifbare Offenbarung Gottes, zu predigen. Und nichts als zu hoffen und zu beten, dass das wieder und wieder wiedergekäute Bibelwort die Kraft entfaltet, die allmählich den Schleier des Erkenntniszweifels lüftet. Luther entblödet sich nicht, das systematisch arg unsaubere Argument vorzubringen, da Gott sich nur im Menschenwort offenbare, sei auch in jedem menschlichen Weitertragen ein Gran neue göttliche Offenbarung enthalten. (Die konsequentere reformierte Dogmatik weist das mit Recht zurück.) Das ist im wesentlichen Luthers Offenbarungstheologie. Ohne alle Abwertung gesagt: sie ist banal, nüchtern und radikal pragmatisch. Sie besagt nichts weiter, als dass die Gottesoffenbarung als Bibelwort vorliegt und dass es auf welchem Weg auch immer unter die Leute zu bringen ist. So frequent und so effizient wie möglich.
Die Aufforderung zum Pragmatismus ist die Stunde der Pragmatiker um Luther: die Stunde der Musiker und die der Drucker. Und die Stunde Melanchthons. Philipp Melanchthon, nicht Luther, ist die geistige Kraft hinter der Massenproduktion von Bibeltextvertonung, die seit Listenius unter der Flagge „Musica poetica“ segelt. Melanchthon liefert den Kirchenmusikern keine Theologie, sondern eine Psychologie, den Commentarius de anima (Über die menschliche Psyche), 1540 bei niemand anderem als Georg Rhau gedruckt. Gleich zu Beginn zitiert er zweimal den antiken Arzt Galen, wegen der Gottesebenbildlichkeit lasse sich Gott erkennen, indem man den Menschen erkenne. Wer denkt, hier spaziere durch die Hintertür das katholische Rationalitätsdenken wieder herein, liegt theologisch natürlich völlig falsch, sachlich aber richtig. Es geht jetzt ums blanke Handwerk. Die biblische Botschaft muss an den Mann und an die Frau, so wirksam wie möglich, und je wirksamer, desto göttlicher, so kann man die Galenreferenz übersetzen. Zur Theorie hinzu nehme man Melanchthons Elementa rhetorices (Bausteine der Rhetorik), 1531 natürlich bei Georg Rhau in Wittenberg gedruckt. Das ist das Jahr von Listenius’ Magisterabschluss. Dort kann man nachlesen, wie man seine Themen so emotionalisiert, dass sie in der Hörerin und im Hörer mit dem gewünschten Gefühl verankert werden.
Das ist es, was die poetischen Musiker brauchen. Melanchthon ist die Blaupause für all das, was heute an den evangelischen Hochschulen unter „Pädagogik“ oder „Vermittlung“ des christlichen Glaubens firmiert. Bei Melanchthon lernen die Kirchenmusiker, wie sie komponieren müssen, damit das Bibelwort ganz tief reingeht. Ein winziger Spalt zur Theologie bleibt, wie gesagt, aber das ist jetzt egal. Da der Mensch nicht die Seite wechseln kann, nähert er sich von der anthropologischen eben so dicht an, dass er so gut wie drüben ist. Die Lücke des Erkenntniszweifels ist geschlossen, nun ja, so gut wie.
Luther siedelt das hehre Wort Gottes hüben und drüben, bei Gott und beim Menschen, beim Sender und beim Empfänger an. Es soll auf beiden Seiten zugleich und folglich irgendwie zwischendrin sein. Da man naturgemäß über die göttliche Seite des Verhältnisses nichts Genaues wissen kann, hält man sich an die menschliche. Die göttliche Seite wäre Theologie, die menschliche ist Anthropologie und Psychologie. Musikalisch angewandte Anthropologie und Psychologie heißt in der lutherischen Kirchenmusik „musica poetica“: eine Musik, die auf Bibelwort oder Predigtwort basiert, die jedes dieser Wörter auf seine psychologische und rhetorische Vermittlungsmöglichkeit hin prüft – und zwar eines nach dem anderen, siehe Distler – und jedes entsprechend klanglich verpackt.
Zwischen dem lutherischen Gottesdienst und dem katholischen Ritus besteht ein fundamentaler Unterschied. Die liturgischen Elemente des lutherischen Gottesdiensts sind Slots. Ihre Kontexteigenschaften sind festgelegt, ihr Inhalt freibleibend – aus gutem Grund, wie wir jetzt sehen. Der Inhalt muss austauschbar sein, um an die psychischen Bedingungen der Empfängersituation angepasst werden zu können: an die jeweilige Kirchenjahreszeit und ihre typische Gemütslage, an die Kirchengemeinde und ihre politische Situation, an den einzelnen Menschen, seinen Typ und seine Sorgen. Die Kirchenmusik muss zielgruppenorientiert arbeiten. Sonntag für Sonntag, Kirchengemeinde für Kirchengemeinde etwas Neues, aber vom äußeren Zuschnitt produktförmig.
Die Stücke der evangelischen Kirchenmusik funktionieren, als ob sie Druckerzeugnisse wären. Sie werden selbst produktförmig, konfektioniert für einen theologisch, vor allem aber psychologisch definierten Slot. Ein massenhaft druckbarer Bibeltext liegt vor, er ist im wahrsten Wortsinn Vor-Lage. Auch ein Kirchenlied ist Vorlage, es liegt vor wie ein Druckexemplar. Das Vor-Liegen ist visuell, es aktiviert den Sehsinn. Etwas liegt gleichzeitig neben einem anderen und einem dritten, man kann vergleichen, man kann auswählen. Die zeitverbrauchende oder zeitgebende Performanz des Schreibens, Sprechens oder Singens eines Texts, die die klösterliche Liturgie im Mittelalter prägte, ist verschwunden.
Das Wort ist durch seine Druckbarkeit und durch die liturgischen Slots produktförmig geworden. Dadurch kann es rasch und massenhaft zu den Empfängern gelangen. Der Empfänger sind viele, und sie sind durch die Produktförmigkeit erst einmal alle gleichgesetzt. Das stimmt insofern, als alle gleichermaßen Menschen sind und gleichermaßen vom Erkenntniszweifel geplagt. Es stimmt insofern nicht, als jeder Mensch und jeder Zweifel individuell ist. Die Individualität muss adressiert werden. Wie immer in der Psychologie des Massenprodukts geschieht das durch das Design, das die emotionale und die motorische Aktivität des Empfängers aktiviert. Diese Aktivität lässt ihn das Produkt als das individuell für ihn gemachte Ding erscheinen. So kaschiert das Produkt seine Produktförmigkeit. Hier wird deutlich, was das „Transportmittel“ Musik, wie wir es genannt hatten, in Wahrheit ist: Es ist das Design des vorliegenden Wortes Gottes, das die Vorlage beim Empfänger ins Performative überführt und in ihm die Individualisierung bewirkt, die für die Überwindung des Erkenntniszweifels so dringend erforderlich ist.
1.5 Lieder, Lieder, nichts als Lieder
Die Musikstreaming-Portale bieten Songs an, nichts als Songs. Was im Detail sich auch immer hinter den Millionen Tracks an Musik verbirgt, drei Strophen Ännchen von Tharau gesungen vom Männerchor Remptendorf 1843 e.V., ein zwölfminütiges Instrumentalstück von Pink Floyd, ein halbstündiger Satz einer Brucknersymphonie, Regenplätschern zum Einschlafen im Auto repeat oder Luthers Aus tiefer Not schrei ich zu dir, alles firmiert als Song.
Songs sind eine überschaubare musikalische Einheit. Die Timeline markiert einen Anfang und ein Ende mit dem Gegenwartspunkt, der vom linken zum rechten Ende läuft. So sind Lieder. Sie haben einen Anfang und ein Ende, dazwischen drei, fünf, zwölf oder dreißig Minuten Musik. Die uniformierende Frechheit, alle Audios einer Datenbank einfach als Song zu labeln, bringt es an den Tag: Wenn eine Audiodatei startet, durchläuft und nach plus/ minus drei Minuten vorbei ist, dann wird es ein Lied gewesen sein.
Gegenproben: Vom Gottesreich wird der Schleier weggezogen und der Gesang der Engel hörbar (wie in Jesaja 6,3 oder Lukas 2,14, den zwei klassischen Bibelstellen der Engelsmusik) – fangen die Engel dort etwa erst nach Dirigenteneinsatz oder Mausklick an zu singen? Und ist die Timeline nach drei Minuten durchlaufen? Was für eine groteske Vorstellung. Sie haben schon immer und ewig gesungen und wir dürfen jetzt mal kurz reinhören. Bedauerlicherweise gibt der historisch-kritische Wortlaut das Singen ohne Unterlass an den beiden Stellen nicht ausdrücklich her, aber die kirchliche Tradition behauptet es durchweg und wird hier doch ausnahmsweise einmal recht haben. Die Sphärenharmonie – trällert sie, wenn sie denn laut den Pythagoreern wirklich Sound absondern sollte, ein Liedchen? Lächerlich. Als wäre der Weltenlauf in knapp fünf Minuten vorüber. Die Orakelpriesterin in Delphi oder Cumae – hat sie geweissagt, indem sie ein Lied sang? So ein Orakel hätte niemand ernst genommen. Die Priesterin war schon im Modus des Orakelns, bevor der Sterbliche die Grotte betrat, und sie blieb es noch, als er wieder draußen war.
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