Der Sound Gottes. Rainer Bayreuther
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Название: Der Sound Gottes

Автор: Rainer Bayreuther

Издательство: Автор

Жанр: Религия: прочее

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isbn: 9783532600849

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СКАЧАТЬ 10, sondern gleich 100 Motetten. Weitere rund 100 Stücke hinterlässt er in kleineren Tranchen. Das liegt noch deutlich unter dem Output des deutschen Durchschnittskantors. Samuel Scheidt, Kantor in Halle an der Saale, veröffentlicht in den 1630er-Jahren 40 + 50 + 50 + 40 =180 Geistliche Konzerte. Andreas Hammerschmidt, Kantor in Zittau, lässt in den 1650er-Jahren 30 + 29 Musikalische Gespräche über die Evangelia drucken. Es reicht nicht, dass der Pfarrer im Gottesdienst über die Evangelien spricht, die Musik muss es auch noch tun. Wolfgang Carl Briegel lässt für Gottesdienste in Darmstadt die Musik 69 Mal neben der Predigt sprechen: 20 + 22 + 27 Evangelische Gespräche zwischen 1660 und 1680. Anfang des 18. Jahrhunderts dann werden solche Zahlen erreicht: Johann Sebastian Bach, Kantor in Leipzig: 300 Kantaten. Gottfried Heinrich Stölzel, Kantor in Gotha: 600 Kantaten. Georg Philipp Telemann, Kantor in Hamburg und deutschlandweiter Tausendsassa: 1750 Kantaten. Johann Philipp Krieger, Kantor in Weißenfels: 2000 Kantaten.

      Aus dem Werkschwall quillt ein wahrer Wortschwall. Den schlichten Psalmvers „Gott, eile zu mir, denn du bist mir Helfer und Erretter, verzeuch [d.h. zögere] nicht“ (Psalm 70,6) vervielfacht Heinrich Schütz in einem seiner Kleinen Geistlichen Konzerte. Gott muss 4-mal eilen, 3-mal ist er der Helfer und Erretter, 6-mal wird „mein Gott“ gerufen und 3-mal soll er bitte nicht zögern. Die Worte werden im Musikkopierer so oft kopiert, bis der ganze Kirchenraum mit akustischen Exemplaren vollgestopft ist. Dann endlich kann man nicht mehr anders, als es zu glauben. Selbst leere Worte wie das Wort „leer“ lässt Schütz in einer Symphonia sacra über den Magnifikatvers Lukas 1,53 3-mal direkt hintereinander singen. Auch der Reichste in der Kirche weiß dann, dass er nichts weiß und nichts hat. Die Volksmenge muss in Bachs Johannespassion 104-mal „kreuzige ihn“ brüllen, bevor Pilatus Jesus endlich kreuzigen lässt.

      Den stärksten Schwall an Wörtern bei den Evangelischen – die Katholiken sind im Gottesdienst maulfauler, außerhalb möglicherweise nicht – schüttet Hugo Distler aus. Seine Motette Singet dem Herrn ein neues Lied nach Psalm 98, komponiert in den 1930er-Jahren, ist das geschwätzigste Stück der evangelischen Kirchenmusikgeschichte. Ein Sonntag Kantate, der mit dieser Motette begonnen wird, hätte die Bezeichnung Sonntag Loquimini verdient: Plappert! Das Wort „singet“ aus V. 1 wird 53-mal skandiert, „dem Herrn“ 46-mal, „ein neues Lied“ 8-mal, „denn er tut Wunder“ 9-mal. „Er siegt“ 41-mal, „mit seiner Rechten“ siegt er 17-mal, „mit seinem heiligen Arm“ nur einmal. „Jauchzen“ in V. 4 tut die Welt 2-mal, aber 26-mal wird seriell skandiert, dass es „alle“ Welt ist. Zum „singt, rühmet und lobet“, wie es in V. 4 weiter heißt, wird dutzendfach aufgefordert. Am weitaus meisten zum Singen, exakt so oft, wie die Plebs Pilatus das Kreuzigen befahl, 104-mal. Wie oft die Trompeten und der Psalter erklangen (V. 6), habe ich nicht gezählt, aber es wird ein Riesenorchester zusammenkommen. Wenn es stimmt, wie Augustin sagte, dass doppelt betet, wer singt, der hat beim Singen von Distlers Motette 314-mal gebetet. Das ist praktizierter Dadaismus. Zum Vergleich: Ein Rosenkranz hat 59 Perlen.

      Vom „Schatz“ der evangelischen Kirchenmusik quellen die Tresore über wie ein Portemonnaie von Inflationsgeld. Wie kam es, dass die Kirchenmusiker das Wort des Listenius wörtlich genommen haben? Warum haben sie so ungeheuer viele Wortwerke abgesondert? Warum haben sie sich nicht darauf beschränkt, ausübende Musiker zu sein wie die „Practici“, die nach dem letzten verklungenen Ton eine akustisch besenreine Kirche hinterlassen? Wieso haben sie das Wort Gottes, von dem Johannes 1,16 im Singular spricht, durch die Druckerpresse geschoben und es zu einem riesigen Haufen klingender Wörter vervielfältigt?

      Jede monotheistische Religion schleppt einen Erkenntniszweifel mit sich. Ihn müssen wir in den Blick nehmen, wenn wir diese Fragen beantworten wollen. Aus der Welt und ihrer Ordnung, aus dem Menschen und seiner Schönheit ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass ein Schöpfergott sich in ihnen manifestiert. Selbst wenn der Gott sich auch mit Worten erklärt, etwa in Gestalt eines Gesetzes, einer Heiligen Schrift, einer Prophetenrede, sind keineswegs die Zweifel ausgeräumt, ob das wirklich Gottes Wort ist oder nur Menschenwort. Die Heilige Schrift braucht Beglaubigungen, etwa die, von Gott selbst im Getöse von Blitz und Donner auf Steintafeln gemeißelt worden zu sein. Die Prophetenrede braucht den inspirierten Propheten. Aber woher kann man wissen, dass Blitz und Donner am Berg Sinai wirklich göttliche Sounds waren? Und ist der Prophet wirklich inspiriert oder nur ein Fall für den Arzt? Der religiöse Erkenntniszweifel verlagert sich von den Offenbarungen auf ihre Beglaubigungen. Kaum sind sie vorgebracht, bekommen sie selbst den Status einer Offenbarung, die der Beglaubigung bedürftig ist. Wir geraten in eine unendliche Kette von Beglaubigungspflichten. Der infinite Regress ist die logische Form des Erkenntniszweifels jeder monotheistischen Offenbarung.

      Beachten wir, wenn wir das am Christentum konkretisieren, dass die Beglaubigung einer behaupteten Offenbarung sehr oft eine durch Worte ist. Wir sind jetzt auf der Ebene von Gedanken, Behauptungen, Erklärungen, kurz: von Semantiken. Eine Semantik wird durch Wörter einer Sprache ausgedrückt. Beglaubigungen sind also Wortgebilde, dito Beglaubigungen von Beglaubigungen. Das vermittelt eine erste Ahnung, was hinter dem Wortschwall der evangelischen Kirchenmusik stecken könnte.

      Die zentrale göttliche Offenbarung im Christentum ist Christus. Eine Person also, keine Worte. Jesus von Nazareth redete in seinen rund dreißig Erdenjahren allerdings auch. Er hielt lakonische Kurzpredigten, er erzählte schroffe Geschichten, genannt Gleichnisse, er betete. Das wurde fleißig mit- oder aus der Erinnerung aufgeschrieben. Er schrieb es nicht selbst auf, ein bemerkenswerter Umstand, auf den neuerdings wieder viel, aber mit wenig Erkenntnisgewinn hingewiesen wird. Wenn Andere es aufschreiben, ist es naturgemäß kontaminiert mit deren eigenen Worten und Gedanken. Nun redete Jesus nicht nur, er heilte Kranke, erweckte Tote, wusch seinen Jüngern die Füße und ließ sich nach einer fadenscheinigen Anklage widerstandslos hinrichten. Er kehrte ins Leben zurück, zeigte sich mehreren Augenzeugen und verschwand spektakulär von der Erde. Alle diese Handlungen wurden anschließend von Augenzeugen und Hörensagern in Worten erzählt und aufgeschrieben. Noch mehr als die protokollierten Jesusworte sind solche Berichte naturgemäß von denen kontaminiert, die sie in Gedanken und Worte fassen.

      Die Lage ist kompliziert genug, aber sie wird noch komplizierter durch das Dogma der Gottesebenbildlichkeit. Einerseits ist der Mensch Gott ähnlich erschaffen, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt. Man kann vom Menschen auf Gott rückschließen. Der Mensch ist ein Sprachwesen, also muss auch Gott eines sein. Ein anderer bekannter Vers aus der Schöpfungslehre passt dazu perfekt, ebenso die besagte Stelle 1,16 aus dem Johannesevangelium. Andererseits hat der Mensch im Sündenfall seine Gottesebenbildlichkeit verspielt. Ob komplett oder nur teilweise, ist strittig zwischen den Konfessionen. Wenn nur teilweise, dann bietet der intakt gebliebene Teil einen Ansatzpunkt, den Erkenntniszweifel auszuräumen. Die katholische Theologie meint, die menschliche Ratio sei der intakte Teil. Wenn demnach die Priester und Propheten ihre Botschaft in eine rationale Welt- und Menschensicht einfügen, dann wird die Göttlichkeit der Botschaft zutage treten. Die protestantische Theologie meint, die Gottesebenbildlichkeit sei in der Apfelszene komplett verschwunden. Nicht eliminiert, aber doch total verfinstert durch Sünde. Es gibt keinen Ansatzpunkt, der übrig geblieben wäre.

      Die Beglaubigung einer Offenbarung müsste also einerseits am Menschlichen ansetzen, andererseits wird das wegen der verlorenen Gottesebenbildlichkeit wirkungslos sein. Eine Dialektik, die wieder einmal nach einer typisch evangelischen Anleitung zum Unglücklichsein aussieht. Schauen wir, wie sich der Protestantismus mit dem Dilemma quält und wie er sich herauswindet. Nicht nur der katholische Gedanke der Rationalität steht ihm nicht zur Verfügung. Auch vor einer anderen katholischen Antwort schreckt er zurück. Für den Katholiken gibt es einen letztlich unbezweifelbaren Beweis für die Göttlichkeit der Heiligen Schrift: die Kirche und ihre Geschichte. Da können einem große Kirchen, große Denker, große Päpste und große Komponisten einfallen. Oder aber Prunksucht, Ablass, Missbrauch, Mord und Totschlag. Der Protestant wendet sich schamvoll schaudernd ab von dem Gedanken. Die evangelische Kirchenmusik, um einmal nur vor der eigenen Haustür zu kehren, zeichnet ein bizarres Muster von frommen Höhenflügen bis zu moralischen Desastern. Von der tief religiös empfundenen Orgelchoralbearbeitung über flache Zeitgeistwerke bis hin zur Führerkantate hat sie alles zu bieten. Im Erkenntniszweifel СКАЧАТЬ