Название: Menschenversuch
Автор: Monika Landau
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783960083221
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Die Tachonadel hatte 100 km/h längst überschritten, als der Straßenbelag abrupt wechselte. Ein Streufahrzeug hatte den harten Schneebelag in eine matschige Unterlage verwandelt. Karl registrierte dies zu spät. Wie aus dem Nichts tauchte vor ihm eine dunkle Wand auf; ein mit Langholz beladener Schwerlaster. Dem sonst so trickreichen und reaktionsschnellen Karl blieb keine Chance. Sein hilfloser Bremsversuch stellte den Wagen quer, schleuderte ihn mit der ganzen Wucht seiner mittlerweile 130 km/h gegen die rechte äußere Stoßstange des querstehenden Lasters. Karl, der sich selbstsicher nicht angeschnallt hatte, löste sich vom Sitz, und sein Körper wurde durch die rechte, vom Aufprall aufgerissene Tür katapultiert. Für Bruchteile von Sekunden nahm er nur noch sanftes Rauschen und bunte Bilder wahr, dann schlug er mit der Stirn gegen die Leitplanke. Regungslos lag er mit seinem eleganten Flanellanzug in einem schmutzigen Schneehaufen, den das Räumfahrzeug am Rande der Trasse aufgeworfen hatte. Augen und Mund waren weit geöffnet. Sein so stolzes Bewusstsein hatte ihn verlassen; äußerlich kaum gezeichnet wirkte er wie ein Schlafender. Nur die Bluttropfen, die aus Ohren, Nase und Mundwinkeln in den Schnee tropften, verrieten seinen Zustand.
Die Stämme auf dem Holzlaster hatten sich beim Aufprall leicht verschoben, ächzten einen Moment, als seien sie aufgewacht und erschrocken. Aus einem dieser Stämme hing aus einem Astloch eine Orchidee, die die lange Seereise und den Frost nicht überlebt hatte, verwelkt herab. Auf Karls grauen Anzug schwebten Schneeflocken, legten sich sachte ab, als wollten sie ihn vor der Kälte schützen. In diesem Augenblick näherte sich ein weiterer Lastzug der Unfallstelle. Der Fahrer, in dem Schneegestöber chancenlos wie Karl, schleuderte mit seinem Gefährt beim Bremsen. Zugmaschine und Anhänger kippten donnernd auf die Seite. Die Planhülle des Hängers gab ihre Fracht frei: aus aufgeplatzten Kartons klatschten rötliche Lachsscheiben, eingeschweißt in flache Plastiktüten, in den Schnee, verließen ihren dunklen Käfig, als suchten sie noch einmal die Freiheit der klaren Gewässer ihrer Jugend. Eine dieser Plastiktüten huschte auf Karls Gesicht zu, touchierte seine Nase. Auf die Lachstüte tropfte Karls Blut.
Eine Frau mittleren Alters, begleitet von zwei jungen Männern, erreichte zuerst den leblos wirkenden Körper. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Wäre Karl nicht bewusstlos gewesen, hätte er in zwei tiefschwarze, rebellische Augen gesehen. Sie ertastete seine Halsschlagader. »Esta viviendo!«, rief sie aus. Schnell verständigte sie sich mit den beiden Männern und ihr Gesicht hellte sich auf. Die Frau legte dem Börsenmakler die Hand auf die Stirn. Der eine der beiden Männer organisierte eine Wolldecke, der andere rannte an der Autoschlange entlang, auf der Suche nach einem Mobiltelefon. Wenige Minuten später ertönte die Sirene eines heraneilenden Krankenwagens. Karl Ernst wurde vorsichtig auf eine Trage gebettet, dann bahnte sich das Rettungsfahrzeug den Weg durch die Autoschlange und das Schneetreiben. Andere Menschen waren nicht zu Schaden gekommen.
Nach einer Stunde hatte man auch Karls Sportcoupé und den umgestürzten Lastzug geborgen, die Lachsscheiben wieder in ihre Kartons verbannt. Die Frau mit ihren Begleitern setzte ihre Reise fort, ebenso der Lastzug mit Tropenhölzern, der kaum eine Schramme abbekommen hatte. Schließlich passierten auch die beiden Männer aus der Raststätte, die sich an Karls Tisch unterhalten hatten, die Unfallstelle. Den blutigen Schnee am Rande der Autobahn nahmen sie nicht wahr. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Am Autobahnkreuz hatte sich die Verkehrslage entspannt. Schnee fiel nicht mehr. Menschen, tote Baumriesen und filierte Lachse, die sich für kurze Zeit gestreift hatten, verloren sich wieder südlich des Kreuzes, strebten ihrem Ziel entgegen.
Karl lag, immer noch ohne Bewusstsein, bereits auf der Intensivstation der Unfallklinik zwischen Autobahnkreuz und Stadt. Das Personal hatte ihn anhand seiner Visitenkarte identifiziert und sein Büro verständigt. Seine Sekretärin wirkte zunächst verzweifelt, doch nach kurzer Zeit besann sie sich, sagte alle Termine für die nächsten Wochen ab, auch die privaten. Nur die dollarschweren Devisenspekulanten, die für den späten Nachmittag aus Übersee erwartet wurden, konnte sie nicht mehr aufhalten. Was mit ihnen geschehen sollte, würde sich finden. Schließlich war sie perfekt ausgebildet und im Umgang mit kniffligen Situationen seit Jahren geübt.
Zwischen Schläuchen, Kanülen und Infusionsgestellen wirkte der sonst so strahlende und selbstbewusste Börsenmakler hilflos und abhängig. Seine Gesichtszüge waren jedoch entspannt. Die vielen medizinischen Geräte und Monitore erinnerten eher an den Leitstand einer Rakete als an eine Krankenstation, in der um Leben und Tod von Menschen gerungen wird. In dieser technisch perfekten Welt gab es kaum Körperkontakte. Die Pfleger und Schwestern beobachteten ihre Patienten hinter Glas aus Kabinen heraus. In Karls Krankenblatt, das am Fußende des Bettes baumelte, hatte der Oberarzt der Station einen doppelten Schädelbasisbruch diagnostiziert. Die Oberschwester kontrollierte die Linien auf den Monitoren. Puls und Blutdruck hatten sich stabilisiert. Was Oberschwester Margret Sorgen bereitete, waren seine Gehirnströme. Bizarre Ausschläge auf dem Elektroenzephalograph machten sie stutzig, da sie nicht mit seiner schweren Kopfverletzung in Verbindung stehen konnten.
Körper und Geist Karls hatten sich vorerst getrennt, lebten parallel dahin. Gesteuert von elektrischen Maschinen und medikamentös gedopt harrte Karls Körper aus. Sein Geist pendelte zwischen Körper und Außenraum, unschlüssig wohin er sich wenden sollte. Dabei emanzipierte er sich immer mehr von Karl – über Geburt und Tod hinaus in die unendliche Spirale zwischen Anfang und Ende. Oberschwester Margret und der hinzu gerufene Oberarzt erkannten zwar die immer intensiveren Schwingungen auf ihren Monitoren, vermochten sie aber nicht zu deuten. Losgelöst vom Fleisch fing Karls Geist an zu träumen: sein Lebenslicht.
CHAOS, SCHÖPFUNG, LIEBE
Alpha füllte allein sich und die dunkle Welt aus. Omnipotent vereinigte sie in sich Alles und Nichts, Anfang und Ende, Licht und Dunkelheit. Zeit und Raum, Energie und Materie existierten noch nicht, nur Alpha. Einsam strömte sie durch sich selbst, doch dies Ineinander von Allwissenheit und Ewigkeit befriedigte sie schon lange nicht mehr. So erwog sie neue, unbekannte Initiativen. Zunächst versuchte sie zaghaft Gefühle aufzuspüren, denn Leid, Freude, Liebe, Hass, Wonne und Schmerz hatte sie noch nicht erfahren. In ihr erwachte Forscherdrang. Zug um Zug entfaltete sie den Fächer des realen und geistigen Empfindens. Immer mehr verließ sie den Zustand bloßen Seins.
So begann sie, in ihrer Geisteswelt mit Experimenten. Schon recht einfache Erfolge, wie beispielsweise das Denken der Schwerkraft oder der Hebelgesetze befriedigten sie zutiefst. Mit göttlicher Akribie und Leidenschaft ging sie daran, ihr Werk zu vervollkommnen. Sie erdachte Gesetze der Chemie, der Physik und der Biologie bis ins winzigste Detail. Immer wieder spielte sie die neuen Gesetze unendlichfach durch, prüfte sie, verglich sie auf ihre Wechselwirkungen untereinander. In ihrer besessenen Reflexion entstand ein perfektes Gebäude theoretischer Existenz neben ihrem Geist. In diesem Kraftpunkt, der im Vakuum des Nichts ruhte, hatte sie alles angelegt: die Elemente und ihre Verbindungen, die Quellen des Lebens, die Staubpartikel wie das gesamte Universum. Stille umgab Alpha und ihre Schöpfung.
Alpha war von nun an nicht mehr allein. Neben und in ihr existierte das Ergebnis ihrer schöpferischen Kraft, freilich noch unfassbar. Intellektuell begriff sie ihre Schöpfung, ließ nicht mehr von ihr ab, war unruhig. Fasziniert blätterte sie immer intensiver in den von ihr erdachten Gesetzen, ließ Fragmente vor ihrem geistigen Auge auftauchen und wieder verschwinden, experimentierte fleißig, genoss die erfolgreichen theoretischen Spiele. Sie, die bislang nur an Einsamkeit gewöhnt war, fühlte sich bereichert, obwohl alles aus ihr selbst entsprang. Fast unmerklich wuchs ein Gefühl in ihr, nahm sie zunehmend in Besitz: die Allmächtige verliebte sich in ihre Schöpfung, in diesen winzigen Punkt des Universums, vollgestopft mit göttlicher Erkenntnis und Energie. Sie liebkoste und behütete ihn, ließ ihn nicht mehr aus dem Sinn. Forscherdrang und andere СКАЧАТЬ