Название: Tödliche Zeilen
Автор: Uwe Schimunek
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955522322
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Thomas Kutscher betrat das Café im Oertelschen Haus. Er brauchte dringend eine Tasse Kaffee. Nachdem ihm in der Blumengasse ein Bengel über den Weg gelaufen war, den er zur Polizei schicken konnte, hatte er fast zwei Stunden neben der Leiche verbringen müssen. Zunächst allein, dann mit einem Wachmann zu Fuße, der blöde Fragen stellte – etwa, was denn genau vorgefallen sei. Das konnte Kutscher freilich nicht wissen. Schließlich war Kommissar Machuntze eingetroffen, der sich den Ablauf des Leichenfunds mehrfach en détail hatte schildern lassen.
Das Oertelsche Haus befand sich nur wenige Meter vom Alten Theater entfernt, daher traf Kutscher hier stets jemanden, mit dem er über die Leipziger Künstlerwelt plaudern konnte. Er schaute sich im Gastraum um – und tatsächlich, von einem kleinen Tisch am Fenster winkte ihm Fräulein Eleonore Rada zu. Der Platz neben ihr war frei. Kutscher nickte der Schauspielerin zu und schritt zu ihrem Tisch.
Die Rada pflegte seit Jahren eine Liaison mit seinem besten Freund Edgar Wank. In den letzten Monaten kamen die beiden ihm wie ein harmonisches Paar vor, was beim Temperament der Aktrice an ein Wunder grenzte.
Auch heute fiel ihr Gruß überschwänglich aus. Die Worte sprudelten aus ihrem Mund wie eine Fontäne aus einem Brunnen: Was für ein schöner Zufall es sei, ihn zu treffen, wie lange sie ihn nicht mehr gesehen habe, wohl mindestens zwei oder gar drei Wochen, wie fürchterlich er am Theater vermisst werde …
Kutscher kam gerade so dazu, einen Guten Tag zu wünschen. Er ließ sich nieder, hörte nur noch mit halbem Ohr zu und winkte dem Ober.
Kaum hatte Kutscher seine Bestellung aufgegeben, setzte die Rada ihren Redeschwall fort. »Ich muss Ihnen leider sagen, dass die Zustände am Alten Theater immer schlimmer werden. Stellen Sie sich vor, unser Dramaturg – Sie kennen Herrn Zeitlitz ja selbst aus leidvoller Erfahrung – hat entschieden, künftig überhaupt keine Stücke mehr in Auftrag zu geben, sondern ausschließlich auf die Klassiker zu setzen.«
Kutscher ging durch den Kopf, dass er solch ein Ungetüm von Satz niemals niederschreiben würde. Kein Leser würde glauben, dass tatsächlich jemand derart spricht. Doch Fräulein Radas Satz verwunderte ihn weniger als die Mimik, die ihn begleitete. Das Fräulein flötete regelrecht und feixte wie am Geburtstagstisch, obwohl das Gesagte doch Ärger ausdrückte. Diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt irritierte Kutscher. Er antwortete: »Wie ich Ihren Dramaturgen kenne, wird bei ihm nichts so heiß gegessen, wie er es gern kochen würde. Davon abgesehen: Das Stück, an dem Zeitlitz nichts auszusetzen hat, muss erst noch geschrieben werden.«
»Ach, mein lieber Herr Kutscher, Sie können die Sache leichtnehmen. Sie haben es ja rechtzeitig geschafft, sich aus der Reichweite von Zeitlitz’ harter Hand zu entfernen.« Die Rada zog die Augenbrauen zusammen und schaute ihn forschend an. »Vermissen Sie den Trubel am Theater nicht manchmal?«
»Ich kann ja jederzeit zum Theaterplatz schlendern und ins Haus gehen«, antwortete er. »Meist reicht mir Ersteres schon.«
»Ach, darum beneide ich Sie.« Die Rada seufzte. Der Kellner trat an den Tisch, stellte Kutscher den Kaffee vor die Nase und fragte, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei. Kaum trabte der Ober davon, quasselte die Rada schon weiter. »Ach nein, wenn ich’s mir genau überlege, würde mir etwas fehlen, wenn mein Name nicht mehr auf den Plakaten stünde und die Zuschauer mir keine Blumen mehr schenken würden.«
»Blumen erhielt ich nicht, als mein Stück am Alten Theater aufgeführt wurde. Und mein Name war in derart winzigen Lettern auf dem Plakat abgedruckt, dass ich ihn selbst beinahe übersehen hätte.«
»Immerhin war es Ihr Name.« Die Schauspielerin lachte. »Aber ich gebe gern zu, dass sich der Schriftzug Tom Tock auf Ihren Romanen ausgesprochen gut macht.«
Kutscher nippte an seinem Kaffee. Er brauchte einen Moment, um eine Antwort auf die Neckerei der Rada zu finden. Glücklicherweise schwieg sie lange genug. Schließlich stellte er die Tasse ab und sagte: »Jedenfalls bereitet mir die Arbeit Freude. Das scheint mir bei Ihnen nicht uneingeschränkt der Fall zu sein, meine Liebe.«
Die Schauspielerin seufzte und schaute ihn mit einem Blick an, der sogar bei einem Scharfrichter Mitleid ausgelöst hätte. »Da sagen Sie etwas, mein lieber Herr Kutscher. Noch vor ein paar Jahren hätte ich mich als ungebundene junge Schauspielerin einfach um ein anderes Engagement bemüht. Doch nun möchte ich die Stadt und vor allem Ihren Freund Edgar nicht mehr missen.« Sie senkte den Blick. »Was soll ich nur tun?«
»Am besten, Sie reden mit Edgar darüber«, schlug Kutscher vor. Dabei kam ihm die Leiche wieder in den Sinn. Auch er verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Konversation mit seinem Freund Edgar Wank. Gleich nach dem Kaffee wollte er ihn aufsuchen.
Edgar Wank verließ das Redaktionsgebäude der Leipziger Zeitung und trat auf die Poststraße. Obwohl es erst kurz nach halb fünf Uhr nachmittags war, dämmerte es schon. Wank schloss seinen Überzieher bis zum Kragen, dennoch kroch die Kälte unter den Stoff. Zum Glück hatte er es nicht weit, seit er in das Zimmer in der Karlstraße gezogen war. Nun musste er sich auf dem schmalen Gehweg durch die Passanten kämpfen, die zum Feierabend gen Augustusplatz strömten. Manch einer kehrte nach getaner Arbeit noch in eine Gastwirtschaft in der Innenstadt ein. Die meisten Arbeiter und Angestellten stiegen allerdings in die Bimmel und fuhren nach Hause.
Ein paar Meter vor ihm löste sich ein Mann von der Hauswand. Er kam Wank seltsam bekannt vor. Dieser Gang, der Mantel, der auch im Zwielicht noch schimmerte, die langen Haare unter der Melone … Wie kam Thomas Kutscher hierher?
»Da bist du ja endlich«, rief der Freund.
Wank blieb stehen und wartete, bis Kutscher bei ihm war und ihm die Hand entgegenstreckte.
Noch während des Handschlags sagte der Freund: »Ich muss dir unbedingt etwas zeigen. Komm mit!«
»Können wir das nicht bei mir besprechen?« Wank stellte den Kragen seines Mantels hoch. »Es herrscht eine Hundekälte, und ich wohne gleich um die Ecke, wie du weißt.«
»Glaub mir, du willst das sehen.« Kutscher klang aufgeregt und zog ihn am Ärmel die Poststraße hinunter.
»Wo, um alles in der Welt, willst du mich denn hinschleppen?«, fragte Wank und schüttelte die Hand des Freundes ab.
»Nur noch ein kleines Stück. Es liegt fast auf deinem Heimweg, Edgar.«
Inzwischen hatten sie die Querstraße erreicht. Kutscher bahnte sich wortlos einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Wank hatte Mühe, ihm zu folgen. Die wenigen Meter bis zum Johannisplatz japste er hinter Kutscher her. Die Johanniskirche warf lange Schatten in Richtung der Dresdner Straße, in die Kutscher ohne Umschweife einbog. Das Gedränge auf dem Trottoir ließ langsam nach.
Wank schloss zum Freund auf und zischte: »Nun sag mir endlich, wo wir hingehen und warum!«
»Hab doch Geduld, Edgar! Es sind nur noch ein paar Hundert Meter. Du wirst Augen machen!« Kutscher flitzte die Dresdner Straße stadtauswärts, als wäre er auf der Flucht vor dem Leibhaftigen. Über dem Johannisfriedhof leuchtete schon die Mondsichel und verlieh der Dämmerung eine gespenstische Note.
Kutscher überquerte die Inselstraße und rief: »Gleich da vorn ist es!«
Auf den zwanzig Metern bis zur nächsten Straßenecke begegnete ihnen lediglich eine Gruppe СКАЧАТЬ