Название: Die Leiche im Landwehrkanal
Автор: Uwe Schimunek
Издательство: Автор
Жанр: Исторические детективы
isbn: 9783955520359
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»Aber Mama …« Ferdinand klang so entsetzt, als hätte er selbst die Maulschelle erhalten.
Henriette von Gontard drehte sich zu ihrem Sohn und zischte: »Du, Ferdinand, gehst auf dein Zimmer! Und zwar sofort!«
»Ich brauche dringend Ablenkung von dem Elend mit der Cholera in meiner Praxis«, sagte Dr. Friedrich Kußmaul.
»Beschreib mir noch einmal die Wunde deines Mordopfers!«
»Du bist der Mediciner«, entgegnete Gontard seinem Freund. »Ich kann dir nur sagen, dass da ein großes Loch war.«
»Von einem Schuss aus einem Fusil oder von einem Dolchstoß?«
»Der Tote lag im Wasser und war völlig aufgeschwemmt. Als wir ihn herausgefischt haben, war das Loch ganz schön groß.«
Kußmaul nahm seine Kuchengabel und schaufelte ein Eckchen der Sahnetorte darauf. Während er die Süßspeise zum Mund führte, sagte er: »Wasserleichen sind besonders eklig. So möchte man nicht tot sein.« Die Gabel verschwand im Mund.
Gontard wusste in diesem Augenblick nicht, ob er seinen Freund bewundern oder bemitleiden sollte. Ein Leichnam rief bei Kußmaul offenkundig keine Reaktion mehr hervor. Da saß der inmitten dieser Conditorei, inmitten des Kaffee- und Kuchenduftes und plauderte beim Mampfen eines Stücks Torte über die Besonderheiten von Wasserleichen …
Der Mediciner hob die Gabel und sagte: »Bevor so einer wiederauftaucht, hat er eine Weile auf dem Grund gelegen. Das tut dem Teint nicht gut, haha!«
»Ach so? Wie lange?« Gontard konnte es kaum fassen, aber Kußmaul hatte schon das nächste Stückchen Torte im Mund.
Der Mediciner schluckte und antwortete: »Ein paar Tage, je nach Wetter, jetzt im Sommer vielleicht zwei bis drei.«
»Dann ist der Mann vielleicht am Dienstag ermordet worden.«
»Das könnte wohl sein. Oder vielleicht schon am Montag oder am Sonntagabend.«
Gontard lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Das Holz knarzte. Er sagte: »Ich weiß einfach zu wenig. Kannst du dir die Leiche nicht einmal anschauen?«
Ein Gruppe Herren mittleren Alters in Uniformen polterte durch den Gastraum. Die Männer ließen sich am Nebentisch nieder und riefen umgehend den Ober herbei.
Kußmaul beugte sich nach vorn und zischelte: »Vielleicht reden wir bei einem Spaziergang weiter.«
Gontard guckte zum Nebentisch. Die Offiziere schienen ihm zwar etwas grobschlächtig zu sein, aber harmlos. Kußmaul legte jedoch bereits seine Thaler auf den Tisch und nahm den Gehrock und den Stock vom Ständer. Der Mediciner schien es eilig zu haben und lief schon zur Tür – so schnell, als sei er auf der Flucht. Gontard warf seinen Waffenrock über und folgte ihm. In der Gaststube kümmerte sich niemand um den Mediciner. Die Offiziere lachten, vielleicht über einen Witz. Andere Gäste schüttelten den Kopf über die Krawallbande, allerdings sagte keiner etwas.
Vor der Tür röstete die Abendsonne den Staub vom Pflaster. Kußmaul schritt das Trottoir ab, als müsse er eine unsichtbare Grenze überschreiten, bevor er Ruhe für ein Gespräch fand. Er überquerte den Gensdarmen-Markt und trat in den Schatten der Französischen Kirche.
Gontard schloss auf und fragte: »Was ist nur in dich gefahren, verehrter Freund?«
»Ich fürchte, du hast uns da etwas eingebrockt.«
»Uns etwas eingebrockt? Ich?« Gontard hörte die Worte, über ihre Bedeutung gab es keinen Zweifel. Und doch wusste er nicht im Entferntesten, was Kußmaul damit meinte.
»Ach, alter Freund …« Kußmaul blieb endlich stehen und drehte sich zu Gontard herum. »Wolltest du wirklich vor diesen Offizieren deinen Fall ausbreiten?«
»Das waren doch nur ein paar pommersche Waldschrate. Sie waren laut, sind aber sicher nicht unbedingt die … Aufmerksamsten.« Gontard legte die Hand auf die Schulter des Freundes. »Die hätten unsere Worte vermutlich weder gehört noch verstanden.«
Kußmaul seufzte und wies in Richtung der Linden. Sie spazierten los. In der Stadt wimmelte es von Menschen. Die Arbeiter kamen von den Baustellen, aus Manufacturen oder Fabriken. Kolporteure boten Schund und Plunder feil, Waschweiber schleppten Körbe. Feine Herrschaften widmeten sich dem Abendamüsement. Über das Pflaster donnerten Kutschen und Pferdeomnibusse. Gontard fand es absurd, dass sie ausgerechnet in diesem Gewühl von Passanten ungestört blieben. Zwar schlichen auch seltsame graue Gestalten durch das Gewimmel, aber die waren sicher auf dem Weg in die Caféhäuser und Salons der Stadt. Denn hier draußen kümmerte sich jeder um sich selbst und um nichts anderes.
»Was, sagtest du, war der Verblichene vom Berufe?«, fragte Kußmaul laut.
»Privat-Secretär bei einem Adligen, von Traunstein heißt der. Warum fragst du?«
»Ein bürgerlicher Schreiberling also.« Kußmaul hob die Hand und fächelte sich Luft ins Gesicht. »Riechst du da nicht den Ärger, der auf dich zukommt? Auf uns?«
»O Freund, du siehst ja Gespenster!«
Kußmaul schnaufte. »Es ist gerade mal zwei Jahre her, dass wir auf den Barrikaden standen, bis der dicke König seinen Hut vor dem Pöbel gezogen hat. Und schau dich um! Die ganze Stadt ist voller Spitzel. Die Vogtei platzt aus allen Nähten, und dabei sind viele außer Landes gegangen. Ich sehe also Gespenster?«
Der Mediciner hatte wohl recht, dachte Gontard, Preußen war derzeit nicht gerade ein Schlaraffenland für Freigeister. Und ohne Frage führte der Freund seine Reden über Friedrich Wilhelm I V. besser nicht in Hörweite pommerscher Offiziere. Gontard sagte: »Es ist erst einmal nur eine Leiche im Landwehrkanal. Und ich will doch lediglich wissen, woran der Mann gestorben ist.«
Kußmaul seufzte. »Ich weiß, dass ich dich nicht zurückhalten kann, wenn du eine Leiche gefunden hast. Ich sehe mir den Knaben an. Hoffentlich gibt das keine Scherereien!«
Tagebucheintrag No. 1, 22. August 1850
Drei Tage sind nun schon vergangen. Drei Nächte ohne Schlaf. Ich bin müde. Ständig fallen meine Augen zu. Doch dann bin ich sofort wieder hellwach. Und ich sehe immer wieder dieses Bild: Der Mann fällt.
Dabei geht es mir gut. In der Schreibstube hat keiner etwas bemerkt. Da bin ich sicher. Die anderen Herren, etwa in den Amtsstuben, begegnen mir mit der Gemächlichkeit der Augusttage. Da falle ich auch todmüde nicht auf. Ich sitze an meinem Secretär und kümmere mich um die Correspondenz. Leider lenkt mich das kaum ab. Immer wieder gerate ich in Gedanken. Und ich sehe den Mann fallen.
Am Nachmittag verlasse ich das Bureau und weiß nichts mit mir anzufangen. Ich könnte ein Buch lesen, eine Ausfahrt mit dem Pferdeomnibus machen, in ein Caféhaus gehen. Aber nein. Ich schleppe mich zum Thiergarten. Es dämmert schon, und kaum jemand ist hier. Wahrscheinlich sind alle schon zu Hause oder in der Gastwirtschaft. Ich spaziere durch die Auen, aber es hilft nichts. Die Ruhe ist noch schlimmer als das Treiben in der Stadt. Nun ist Abend, und ich sehne den Morgen herbei.
Es ist schon seltsam. Ich habe Hunderte von Menschen sterben sehen. Ach was, Tausende. Damals bei Waterloo. 35 Jahre ist das her. Wir haben den Franzmännern eingeheizt. Die sind umgefallen wie die Fliegen. Ich weiß noch, wie das gestunken СКАЧАТЬ