Название: Leise Musik aus der Ferne
Автор: Manfred Eisner
Издательство: Автор
Жанр: Исторические приключения
isbn: 9783954885756
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Wir haben den 1. Oktober. Ich weiß nicht genau warum, aber heute kamen mir Erinnerungen aus meiner Kindheit in den Sinn. Wir waren eine Bande von sieben Kindern: der Vetter Heiko, der Josef, Sohn des polnischen Bäckers, die Zwillinge Gesche und Gesine, der Rollo und die Heide. Josef hatte von Geburt an einen missgebildeten Fuß und Rollo gab ihm den Spitznamen „Klumpfuß“. Josef lief jedes Mal vor Wut rot an und fluchte mit furchtbaren Schimpfwörtern, wenn man ihm „Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“ nachrief. Aber irgendwie hat er sich nach und nach mit diesem Spitznamen abfinden müssen. Gesche und Gesine sahen sich wie zwei Wassertropfen ähnlich. Ich konnte sie nie auseinanderhalten; beide waren sehr wehleidig und weinten beim geringsten Anlass laut los. Sie waren stets gleich gekleidet, und das einzige Merkmal, an dem ich sie unterscheiden konnte, war, dass Gesine Lakritze mochte, Gesche dagegen überhaupt nicht. Rollo war ein durchtriebener Gauner, der insgeheim das Apfelgelee aus Mamas Speisekammer klaute. Sein eigentlicher Name war Roland. Meistens spielten wir alle auf dem Hof unseres Hauses. Rollo und Heide machten sich einen Spaß daraus, in den Wasserbrunnen zu spucken. Wir lehnten uns über den Brunnenrand und unsere Gesichter spiegelten sich auf der weit unten gelegenen Wasseroberfläche. Wenn die Spucke auf dem Wasser aufschlug, verzerrten sich unsere Gesichter.
Da Klumpfuß nicht recht laufen konnte, hatten wir uns mehrere Spiele ausgedacht, bei denen er leichter mitmachen konnte. Wenn wir ihn aber ärgern wollten, dann spielten wir Kriegen oder Hinkefuß. Ich weiß, dass alles, was ich hier niederschreibe, schrecklich albern klingen muss, aber ich habe eine solche Sehnsucht nach meiner Kindheit und der damaligen, so schönen Zeit. Wenn ich das hier schreibe, dann wird diese Sehnsucht etwas gemildert.
Josef war äußerst misstrauisch. Wenn wir anderen uns etwas leise zuflüsterten, drehte er sich rasch um und wurde wütend: „Ihr redet schon wieder über meinen Fuß, ihr Schamlosen!“ Eines Tages fuhr Heide auf und sie rief ihm ins Gesicht: „Dein Vater ist ein Polacke!“ Josef schaute sie mit vor Zorn funkelnden Augen an und schrie voller Wut zurück: „Du schmutziger Bastard!“ Er spuckte sie an und entfernte sich humpelnd in Richtung der Bäckerei seines Vaters. Heide weinte bitterlich. Sie war ein lediges Kind und hatte ihren Vater nie gesehen.
Heiko war der Tunichtgut unserer Clique. Er behandelte uns nie wie seinesgleichen. Mit mir sprach er kaum, und wenn er überhaupt etwas sagte, war es stets in einem anmaßenden Ton, als sei er der Herrscher, der Vorgesetzte. Eines Tages verschwand er von zu Hause. Tante Alexandra, seine Großmama, kam weinend zum Papa, um zu berichten, dass ihr Enkel vermisst werde. Die Polizei wurde alarmiert, viele Leute in Oldenmoor begaben sich auf die Suche, auch im Courier wurde darüber berichtet. Nach zwei Tagen fand man den Ausreißer frisch und munter an der Elbe; er hatte sich in einem Wäldchen am Außendeich eine rustikale Unterkunft gebastelt und saß an einem Lagerfeuer. Tante Alexandra weinte vor Glück. Da Heiko keinen Vater mehr hatte, dachte der Papa, dass er ihm ins Gewissen reden müsse. Heiko wurde frech und antwortete ihm, dass er uns alle satt habe, lieber hinter dem Deich bleiben und dort allein leben wolle.
Nach diesem Abenteuer wurde er nur noch „Deichkater“ genannt. Heiko gab sich nie viel mit uns ab, er war ein verschlossener, stolzer Bursche, ja sogar manchmal boshaft. Eines Tages schloss er mich im dunklen Keller ein und rief dann von draußen: „Da drin bleibst du jetzt, bis dich die Ratten und die Spinnen aufgefressen haben. Ich hasse dich, weil du ein Weib bist!“ Noch heute erinnere ich mich an die Angst, die ich ausgestanden habe.
Man erzählte sich, dass es in unserem Keller spukte. Ich fühlte die Gespenster, die Schlangen, die Ratten und die Spinnen, die über mich herfielen, über meine Arme und den Hals krochen und zwischen meine Beine schlüpften. Ich schrie laut und heulte vor Angst, und als das Lenchen mich endlich befreit hatte, zitterte ich am ganzen Körper und musste mit hohem Fieber ins Bett. Der Papa zog dem Deichkater den Hosenboden stramm und versohlte ihn mit dem Weidenstock. Am nächsten Tag verschwand Heiko wieder von zu Hause.
Ich konnte Heiko nie richtig leiden und ihm nicht direkt in die Augen sehen. Jetzt geht er so seines Weges, ist einundzwanzig Jahre alt und hat immer noch seine arrogante Haltung. Onkel Johann sagt, dass Heiko das schwarze Schaf der Familie ist. Der Deichkater hat sein Abitur bestanden. Danach wollten sie ihn nach Hamburg an die Universität schicken, damit er Medizin studiert. Der Deichkater weigerte sich und meinte, es gäbe bereits genügend irrende Doktoren auf dieser Welt. Er hat obskure und verrückte Gedanken in seinem Kopf. Er trägt keinen Hut, wechselt häufig seine Arbeitsstelle und lebt allein, ziellos, so einfach drauflos wie eine verlorene Seele.
Lieber Gott, warum gibt es solche Menschen auf dieser Welt?
Und warum verschwende ich eigentlich so viele Worte über den Heiko? Gestern ging er an mir vorbei und tat so, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte.
Der Josef ist auch ganz anders geworden. Er leitet das Schreibkontor in der Bäckerei seines Vaters. Er ist sehr unnahbar und misstrauisch; wenn er kann, weicht er mir immer aus. Er befürchtet wohl, dass ich ihm „Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“ nachrufe. Das Schlimme ist, dass er tatsächlich für mich noch derselbe Klumpfuß ist. Ich muss mich immer sehr zusammennehmen, wenn ich ihn anspreche, um ihn nicht bei seinem Spitznamen zu nennen. Dieser krumme Fuß ist der hauptsächliche seelische Kummer, den der arme Josef mit sich herumschleppt.
Ich habe noch nie ein so albernes Tagebuch gelesen wie dieses!
3. Geisterstunde
Langsam bricht der Abend herein. Das Licht im Esszimmer des Herrenhauses wurde noch nicht angezündet und es ist düster.
Die Fenster lassen das Zwielicht fahl durchscheinen; es verleiht den Gegenständen im Raum den Anschein eines Friedhofes im Mondschein. Alles ist still. Die schweren Möbel werfen dunkle Schatten auf den Boden. Die verstorbenen Ahnen auf den großen Gemälden mit den vergoldeten Rahmen sehen noch viel verblichener aus. Der riesige Kristalllüster, der von der Decke herunterhängt, strahlt einen eiskalten Glanz aus, als ob er aus weißen Gerippen bestünde.
Die bequemen, mit rotem Samt bezogenen Sessel stehen um den gewaltigen Eichentisch herum, auf dem die ebenfalls rote Samtdecke mit der goldenen Borte liegt. In der Mitte der langgezogenen Anrichte thront eine marmorweiße Büste von Kaiser Wilhelm I. An der gegenüberliegenden Wand hängt der überdimensionale ovale Spiegel – ähnlich einem leblosen See, auf dem sich eine vor langer Zeit versunkene Landschaft widerspiegelt.
Minuten verstreichen. Das Licht schwindet zusehends. Stille kehrt ein. Sie wird nur durch das monotone Ticken der Standuhr unterbrochen, die unaufhörlich am Zeitvergehen strickt. Plötzlich ertönt ein dumpfes Schlagen, noch eins, ein weiteres, drei, fünf. Es ist so, als ob diese Laute aus weiter Ferne kämen, aus längst vergangenen Zeiten, und durch sie die Geister der Vergangenheit geweckt würden.
Könnten nur die Holzdecke und die dicken Balken die Stimmen der Vergangenheit hervorbringen, die einst zu ihnen emporstiegen … Vermochte der Spiegel allein die erloschenen Bilder aus jener Zeit widerzuspiegeln …
* * *
Ein Märzabend im Jahre 1910.
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