Название: Leise Musik aus der Ferne
Автор: Manfred Eisner
Издательство: Автор
Жанр: Исторические приключения
isbn: 9783954885756
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Clarissa kennt diese Geschichten auswendig. Aber als sie noch klein war, ging sie nie allein in diese Stube, vor allem nicht, wenn es dunkel war. Dieses verschlossene Gesicht und die riesige, von Gold bedeckte Gestalt flößten ihr ungeheure Furcht ein. Und wenn plötzlich der General aus dem Rahmen spränge, mit dem blanken Säbel in der rechten Hand durch das Haus liefe, Stühle umwerfend, Porzellan zertrümmernd, Menschen tötend? Clarissa betrachtet das Ölgemälde des Urgroßvaters. Obwohl sie jetzt eine erwachsene junge Dame ist, kann sie das Quäntchen Angst nicht unterdrücken, das sie noch empfindet: Ihr ist bange vor diesem brummigen Riesen mit der mächtigen Gestalt …
Die Stube hat einen ganz besonderen Duft. Als Clarissa noch klein war, dachte sie, dass der merkwürdige Geruch von diesem Gemälde ausginge. Auch heute besteht bei ihr noch dieser Eindruck, wenn auch in abgeschwächter Form. So sehr sie sich auch darum bemüht, gelingt es ihr nicht ganz, diese Empfindung loszuwerden.
Sie öffnet ein Fenster: Die Nachmittagssonne strömt herein und erleuchtet das Portrait des Generals. Die brüchigen Stellen am bemalten Gewebe werden sichtbar, die güldenen Achselklappen, Litzen, Knöpfe und Orden glänzen jetzt besonders. Der gesamte Salon offenbart dem starken Licht mit einem Mal seine Geheimnisse: die alten Möbel aus dicker Eiche, der gepolsterte Diwan, die hübsche Obstschale aus bemaltem Ton in der Mitte des mit rotem Samt bedeckten, ovalen Tisches. An der Wand das Bild der Großmutter Henriette; der ovale Spiegel in dem dicken, mit schwungvollen Ornamenten übersäten Rahmen.
Der Papa wiederholt immer: „In diesem Salon war einmal der Kaiser zu Gast, als er noch König von Preußen war.“ Kater Moritz jedoch ignoriert dies gänzlich und zollt der Erinnerung an den hohen Besuch keineswegs den gebührenden Respekt. Clarissa blickt erstaunt auf den Boden, auf den kleinen, dunklen See, in dem die Sonne kleine Feuersterne malt. Dieser Schurke! „Kathrein“, ruft sie, „komm schnell und sieh dir an, was der ungezogene Moritz in der Stube hinterlassen hat!“
Clarissa öffnet den grünen Deckel ihres Tagebuches und schreibt: Ich möchte Dir, liebes Tagebuch, alles anvertrauen, alles, was ich fühle, alles, was ich denke. Obwohl man ja eigentlich nie alles niederschreibt, was man wirklich denkt. Warum ist es so, dass wir nur im tiefsten unserer Gedanken absolut ehrlich sind?
Ich muss mich mit Dir unterhalten, ich habe sonst niemanden, dem ich meine Gedanken anvertrauen kann. Meine Lehrer-Kollegen an der Schule mögen mich nicht sehr (ich weiß nicht wieso!). Die Einzige, mit der ich mich unterhalte und die mich gelegentlich aufsucht, ist Heike.
Mit dem Tagebuch ist es so, als ob ich mich mit mir selbst unterhalte. So gewinne ich eben den Eindruck, dass ich nicht so allein bin.
Was kann ich sonst noch erzählen? Heute ist ein wunderschöner Herbsttag, richtiger Altweibersommer. Im Garten vorm Haus blühen die Astern. Schande! Eine Lehrerin, die „vorm“ sagt! Es heißt doch richtig auf Hochdeutsch „vor dem Hause“. Das hört sich ganz besonders pedantisch an … Warum schreiben die Leute nie so, wie sie wirklich sprechen? Na, macht ja sowieso nichts, niemand wird je mein Tagebuch lesen. Und wenn ich sterben sollte? Wenn ich sterbe, dann wird die Mama nach der Beerdigung, ganz in Schwarz gekleidet, hier hereinkommen, um meine Sachen zu ordnen. Stell dir vor, sie findet dieses Tagebuch, öffnet es, liest darin und erfährt so alle meine Geheimnisse!
Nein, nur das nicht! Ich muss dieses Tagebuch vernichten, bevor ich sterbe. Das Schlimme ist, dass man nie genau weiß, wann einem die Stunde schlägt.
Wie ich schon sagte, blühen in unserem Garten vor dem Hause die Astern neben dem Fliederbaum. In der Frühe zwitschern die Vögel und machen einen Heidenradau. Wenn ich richtig malen könnte, würde ich gern unseren Garten malen.
Heute war ich in der Stube. Ich habe wieder das Gleiche gefühlt wie früher, als ich noch klein war. Als ich das riesige Bild meines Urgroßvaters ansah, hatte ich den Eindruck, dass er plötzlich aus dem Rahmen springen und hinter mir herrennen würde. So ein Blödsinn! Ein Bild ist ja nur ein Bild. Wenn die anderen von meinen Ängsten wüssten, würden sie mich ganz schön auslachen! Aber das ist eben, was ich fühle. Ich darf nicht lügen, wenigstens darf ich mich nicht selbst belügen.
Gestern Abend war ich unten, mit den Verlobten. Tante Therese und ihr Hein sagen sich immer dasselbe. Als ich sechs Jahre alt war, versprach Hein ihr die Ehe, kam fast jeden Abend zu uns, um sich mit ihr zu unterhalten, und ich saß oft auf seinem Schoß. Er brachte mir immer Bontjes mit – und ab und zu ein Malbuch. Damals sollte nach einem Jahr die Hochzeit stattfinden. Heute, viele Jahre später, sind Tante Therese und Hein immer noch Verlobte, sitzen stets am gleichen Ort in der Stube und aus der Hochzeit ist bis jetzt nichts geworden. Hein Piepenbrink ist ein sehr witziger Mensch. Er kann das „r“ nicht richtig aussprechen, meistens verschluckt er die Worte mir „r“, damit man es nicht so „meakt“. Sein Gesicht ähnelt einem Kürbis (ich weiß nicht wieso, ich habe mir immer ein Kürbisgesicht so vorgestellt). Hein Piepenbrink – sogar sein Name ist ulkig. Er passt so ganz und gar zu ihm. Als er damals zu uns kam, wurde mir sein Name beigebracht, ich musste ihn immer wieder aufsagen und sollte ihn mit vornehmer Stimme aussprechen. Am Abend, als er dann kam, kriegte ich dabei einen solchen Lachanfall, dass ich trotz aller Bemühungen um Beherrschung nichts weiter als „Hein Piep-pieppiep-piep“ herausbrachte. Er wurde vor Verlegenheit ganz rot und Tante Therese zog mich an einem Ohr aus der Stube. Draußen kriegte ich noch einen Klaps auf den Hintern.
Wie sich doch die Welt verändert! Heute spricht mich Hein Piepenbrink mit „Fräulein Clarissa“ an, er gibt sich mir gegenüber sehr höflich. Während sie sich unterhalten, sehe ich die Hefte meiner Schüler nach oder lese einen Roman. Gelegentlich tue ich so, als ob ich ganz in meine Arbeit vertieft sei, und lausche ihrer Konversation. Tante Therese und Hein Piepenbrink streiten sich ständig um Nichtigkeiten. Stets sind sie am Diskutieren, meistens über etwas Blödsinniges. Sie sagt: „Der letzte Film hat mir sehr gefallen.“ Er antwortet: „Mir überhaupt nicht.“ Und sie: „Aber mir hat er gefallen.“ Er: „Ich fand ihn ausgesprochen langweilig.“ Sie: „Das ist mir egal, du Ekel!“ Er: „Therese, ich habe dir schon oft gesagt, du sollst mich nicht ‚Ekel‘ nennen.“ Sie: „Das ist mir trotzdem egal.“ Hein: „Du bist albern.“ Sie: „Und du bist widerlich!“
Und all dies flüstern sie sich ganz leise zu. Dann schaltet Tante Therese mit einem Mal auf stur und die Unterhaltung verstummt für eine Weile. Hein Piepenbrink spielt unterdessen mit seiner Uhrenkette, um sich die Zeit zu vertreiben (Uahenkette, wie er sagt), so lange, bis Tante Therese seufzt. Danach gibt sich Hein einen Ruck und sagt mit einer sehr süßen Stimme: „Therese, Liebling, wollen wir uns nicht wieder vertragen?“ Sie zuckt nur mit den Schultern. Da er ihre sture Haltung nicht länger ertragen kann, beschließt er, auch böse zu sein und geht nach Hause.
Die Mama betet täglich dafür, dass diese Heirat endlich stattfinden möge. Alle Welt spricht davon, dass sie auf den Sankt-Nimmerleinstag festgelegt worden sei. Hein Piepenbrink ist Kontor-Angestellter bei den Lederwerken Gebr. Christiansen. Er behauptet, erst dann heiraten zu können, wenn man ihm dort die versprochene Gehaltserhöhung gibt.
Als ich gestern Abend zu Bett ging, war die klare Nacht herrlich, ganz hell vom Vollmond erleuchtet. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich diese Schönheit nicht in Worten beschreiben. Das schaffen die Menschen eben nicht. In den Büchern und Schriften ist immer alles anders. Ich erinnere mich eines Aufsatzes, den ich damals aufhatte, als ich am Lehrerseminar in Flensburg studierte. Er handelte von einem Ausflug. Ich beschrieb eine Reise auf die Insel Ærø, die ich zusammen mit den Mitbewohnern des Studentenpensionats unternahm. Ich begann mit der Schilderung der Schiffsfahrt durch die Flensburger Förde und über die durch den Sturm aufgewühlten Ostseewellen. Ich beschrieb den dunklen, mit grauen Wolken verhangenen Himmel, den kleinen Hafen, den malerischen Ort СКАЧАТЬ