Leise Musik aus der Ferne. Manfred Eisner
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Название: Leise Musik aus der Ferne

Автор: Manfred Eisner

Издательство: Автор

Жанр: Исторические приключения

Серия:

isbn: 9783954885756

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      Sie geben sich einen Kuss. Heike hat diese ekelige Angewohnheit, auf den Mund zu küssen. Clarissa muss sich zusammennehmen, um ihren Widerwillen zu verbergen.

      In der Kaiserstraße kommt sie am Haus von Harald Suhl – „Onkel Suhl“ – vorbei, das hellbraun getünchte Gebäude mit dem spitzen Giebel, an dessen Obergeschoss der kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün gestrichene Balkon mit den schönen weißen Schwänen hervorragt. Und oben auf dem Dachfirst die Windfahne mit dem dürren, schwarzen Wetterhahn. Wie viele Erinnerungen sind mit diesem Hause verbunden! Als sie noch ein kleines Mädchen war, kam Clarissa eines Abends dort hin, um mit ihren Spielkameraden durch das Teleskop von Onkel Suhl zu schauen, eine von Grünspan überzogene Metallröhre. Der Alte mit seiner brüchigen Stimme gab seltsame Sprüche von sich, die niemand so recht verstand, lutschte ständig Pfefferminz-Pastillen und trug eine kleine Wollmütze auf dem kahlen Kopf.

      „Kommt her, ihr dürft durch das Teleskop gucken“, lud er die Bande ein und knurrte wie ein misstrauischer, junger Hund.

      Clarissa schaute durch das Okular des Rohres. Onkel Suhl erklärte alles: „Der Mond ist ein Satellit der Erde. Was du da gerade siehst, sind die Krater der erloschenen Vulkane auf der Mondoberfläche …“

      Was Clarissa in Wirklichkeit sah, war irgendetwas Weißliches, Undeutliches und Undefinierbares.

      „Hast du auch die Berge bemerkt?“, fragte er mit eigenartiger Stimme. „Und auch die Seleniten, die Mondmenschen?“

      Clarissa hatte Angst vor Onkel Suhl. Sie bejahte, nur damit er nicht ärgerlich wurde. Aber Vetter Heiko lachte frech in das Gesicht des Alten: „Ach was! Nix ist da zu bemerken! Dein Periskop taugt nix, Onkel Suhl!“

      „Du Lump!“, fuhr ihn der Alte an, in einem Ton zwischen Entrüstung und Belustigung.

      Sie zuckte zusammen. Was für ein furchtloser Knabe war doch der Heiko. Er hatte tatsächlich den Mut, dem Onkel Suhl zu widersprechen …

      Danach stieg die ganze Bande die dunkle Stiege hinab. Aufgescheuchte Mäuse huschten an ihnen vorbei. Auf dem Schreibtisch dieses seltsamen Alten lag ein furchterregender Totenkopf. Clarissa schloss fest ihre Augen und eilte an diesem vorbei. Ach! Dieses obere Stockwerk war doch sehr geheimnisvoll!

      Während Clarissa weitergeht, wandern auch ihre Gedanken. Junge Menschen lernen, durch Studium und Bücherlesen vieles besser zu verstehen. Eigenartigerweise fühlen sie später trotzdem oft noch genau dasselbe, was sie schon als Kinder einmal empfanden. Manche Eindrücke sind auch durch den gereiften Verstand nicht zu verdrängen … So behaupten wir zum Beispiel, dass wir nicht an Geister glauben. Aber die Wahrheit ist doch, dass wir nicht ohne eine gewisse Angst ein dunkles Zimmer betreten oder an Spukhäusern oder am Kirchhof rasch vorbeieilen, ohne hinzusehen …

      Das Lenchen serviert das Mittagsmahl. Sie bringt die Suppenterrine auf einem Tablett herein. Mit ihrem ergrauten Haar und ihrer weißen Küchenschürze um die volle Taille erinnert sie Clarissa an eine Reklame für Scheuermittel, die sie in einer Zeitschrift gesehen hat: „Ich putze meine Töpfe nur mit Blitzblank!“

      Der Papa sitzt an seinem angestammten Platz. Er bindet sich eine Serviette um den Hals, nachdem er damit – unausbleiblich! – sorgfältig seinen Löffel geputzt hat, und hüstelt.

      Die Mama hebt den Deckel der Terrine an. Dampf steigt in die Luft und verbreitet einen appetitlichen Duft. Frau Annette taucht die silberne Suppenkelle in die Schüssel. „Suppe, Hans-Peter?“

      Der Gatte nickt.

      „Auch du, meine Kleine?“

      „Ja, bitte.“

      Tante Therese mit ihren großen, rehbraunen Augen in dem gelblichen Gesicht versichert, dass sie keinen Hunger habe und lehnt dankend ab.

      „Vergiss deine Lebertropfen nicht, Schwester.“

      Tante Therese ist die Schwester der Mama. Seit zwölf Jahren ist sie mit Hein Piepenbrink verlobt. Die ganze Familie fragt sich: „Also, wann wird nun endlich geheiratet?“ Der Bräutigam beteuert immer wieder, dass er sofort heiraten werde, wenn man ihm endlich die versprochene Gehaltsaufbesserung auszahle; diese jedoch lässt schon sehr lange auf sich warten. Und so vergeht ein Tag nach dem anderen.

      „Heute habe ich wieder mit der Bank verhandelt“, klagt Hans-Peter. „Ich kriege schon graue Haare wegen dieser verwünschten Wechsel …“

      Frau Annette seufzt. Hans-Peters Gesicht verfinstert sich. Und Clarissa ahnt, dass das, was jetzt kommen wird, ja kommen muss, das, was die Frauen so fürchten: Geschäftliches!

      In den Wirren der Inflation verlor der Papa das gesamte Gut mit all seinen Gebäuden, Wäldern, Ländereien und dem Vieh. Es verblieb ihnen fast gar nichts. Jetzt besitzt man nur noch dieses riesige Stadthaus, aus dem aber die Freude ausgezogen ist. In früheren Zeiten lachten alle und unterhielten sich angeregt bei den Mahlzeiten. Jetzt herrschen nur noch Mutlosigkeit und Traurigkeit und es wird lediglich vom Sparen gesprochen: weniger Fleisch, keine Butter, nicht so viel Strom zu verbrauchen, nicht so viele Kohlen zu verheizen … Gelegentlich scheint es, als ob man die Sorgen vergessen hat und es belebt sich die Unterhaltung. Wenn aber jemand das leidige Wort „Geld“ ausspricht – dann passiert es: Alle verharren mit betrübten Gesichtern.

      Geld, Geld! Gibt es denn auf dieser Welt nichts Wichtigeres als Geld? Beklommen stellt sich Clarissa selbst diese Frage.

      Der Papa erwähnte soeben die Bankwechsel. Niemand hat jetzt noch Appetit.

      Clarissa versucht die Situation zu retten, das Gespräch in andere Bahnen zu leiten: „Heute gab ich meinen Schülern die Aufgabe, eine Landschaft mit einem Haus …“

      Niemand hört ihr zu. Anscheinend hat der Papa lediglich das Wort „Haus“ wahrgenommen, weil er sofort die Tochter unterbricht, indem er bemerkt: „Wenn ich schließlich und endlich wenigstens dieses Haus retten kann, dann wäre ich schon sehr zufrieden …“

      Er schiebt den Suppenteller von sich. Tante Therese zählt zwanzig Lebertropfen auf einen Suppenlöffel.

      „Lene, servieren Sie jetzt bitte den Hauptgang“, sagt Frau Annette.

      An der Wand hängt in einem versilberten Rahmen eine Kopie des „Letzten Abendmahls“ von Leonardo da Vinci. Brot und Wein. Clarissa wirft ihren Blick auf das Bild und vertieft sich in ihre Gedanken … Plötzlich hat sie den Eindruck, als ob Jesus sie vom Bild herab etwas spöttisch anblicke und ihr sagen wolle: „Wir zwei sind uns wohl nicht so ganz einig, nicht wahr, Clarissa?“

      Clarissa betritt den geräumigen Salon, die gute Stube, die den bedeutenden Besuchern des Hauses vorbehalten ist. An der Wand hängt oberhalb des breiten Kamins das riesige Portrait des Urgroßvaters: In voller Größe steht der Held des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871 da, gekleidet in seine Galauniform mit goldenen Achselklappen, die Brust mit Orden behängt, die Hände in weiße Handschuhe gehüllt. Eine davon umfasst den Griff des mächtigen Kavallerie-Säbels. Das strenge Gesicht des Generals ist von buschigen, schneeweißen Koteletten umrahmt.

      In der Stube herrscht Dunkelheit. Seit ihren Kinderjahren hat Clarissa dieses Bild immer wieder betrachtet. Der Papa erzählt viele Geschichten über den General, der ein sehr gerechter und sparsamer Mensch, Wohltäter der Armen, guter Herr seiner Knechte und Tagelöhner war. Er dichtete Sonette, spielte die Geige, hielt СКАЧАТЬ