Название: Zwei Freunde
Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783957840127
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Aber die Nerven gehorchten der Phantasie und nicht dem Verstande. Auf dem Heimweg von des Freundes Casparius kleiner Wohnung blieb Oskar Wichmann an den Litfaßsäulen stehen und beruhigte sein Herz mit der zum dritten Mal durchgelesenen Notiz, daß der berühmte ausländische Tenor an einem einzigen Abend auftreten und den Radames in »Aida« singen werde. »Erhöhte Preise … Beginn des Vorverkaufs am …«, also in drei Tagen. Es war noch Zeit. Der Tenor sang an einem einzigen Abend! Ihr himmlischen Mächte, das war ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem die Familie Grevenhagen nicht fehlen konnte. An einem einzigen Abend! Hatte er nicht schon in der Zeitung der Geheimrätin von dem kommenden Ereignis gelesen? Er mußte morgen beim Frühstück Martha bitten, ihm das Blatt noch einmal herauszusuchen. In drei Tagen begann der Vorverkauf. Wenn Wichmann morgen etwas früher aufstand, konnte er sich schon mit dem Pförtner des Opernhauses besprechen. Vielleicht konnte er morgen schon in die Oper gehen, gleich, was gegeben wurde, und bei dem Logenschließer die Stammplätze der Familie Grevenhagen erfahren. Natürlich waren sie im ersten Rang.
Hier stand noch eine Litfaßsäule. »Festvorstellung anläßlich des einmaligen Auftretens … erhöhte Preise … Stamm- und Freikarten ungültig …«
Wichmann konnte den Text schon auswendig. Stammkarten ungültig … aber wie er Justus Grevenhagen beurteilte, sorgte dieser Hausherr und Gatte dafür, daß die gewohnten Plätze auch an diesem Abend ihm und seiner Familie zur Verfügung standen.
Wichmann kam pfeifend nach Hause, nahm am Abend noch ein Bad, stellte den Wecker eine Stunde früher und dachte an den Blumenladen in der Residenzstraße, an dieses Fenster mit den erlesensten Erzeugnissen der Gewächshäuser. Zartfarbene Teerosen sollten es sein, sich entfaltende Knospen an langen weichen Stielen – denn der Tango hatte sich »Gelbe Rosen« genannt. Er würde jetzt jeden Tag an dem Fenster der Blumen vorübergehen und träumen, wie er als Junge geträumt hatte.
Mit dem Assessor ging abermals eine Veränderung vor. Er wurde wieder arbeitslustig, die Gedanken drängten sich ihm zu, und Entscheidungen wurden ihm leicht; seine Ansichten brachte er gegenüber den Kollegen entschiedener vor als bisher. Bei der Tafelrunde in der »Stillen Klause« machte er Fräulein Hüsch nicht abreißende Komplimente. Er nannte ihren Hut sehr chic, bekrittelte den Friseur, der ihre Haare nie so vorteilhaft lege, wie sie gewachsen seien, und versicherte ihr, daß sie sich als Dame niemals in den öden Dienstbetrieb einzufügen brauche; er werde ihr den Entwurf für das neue Bücherverzeichnis machen, den Grevenhagen verlangt hatte. Den Inspektor Baier hörte Wichmann mit Geduld an und entzückte ihn dadurch, daß er das Ergebnis der herbstlichen Fußballkämpfe noch im Kopfe hatte und über die Frühjahrsaussichten von Hertha BSC zu diskutieren bereit war. Borowski schien es für zweckmäßig zu halten, sich mit Grevenhagens »rechter Hand« zu vertragen. Der einzige Kollege, mit dem der Assessor in einem gespannten Verhältnis stand, war Korts, aber der Gegensatz wurde, durch gegenseitige Achtung und Klugheit gebändigt, nie in ein Wort gefaßt.
Von der Liste der Ernennungen war häufig die Rede, und sowohl Wichmann selbst als auch die ganze Kollegenschaft hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß Wichmann als das »Wundertier des Abendlandes« zu den Glücklichen zähle. Ministerialdirektor Boschhofer hatte an der Denkschrift zu den Etatsverhandlungen besonderes Wohlgefallen gefunden.
Wichmann stand regelmäßig früh auf und freute sich immer wieder auf den Weg, der ihn an der prächtigen Blumenausstellung und der Vorhalle des Opernhauses vorbeiführte. Der Pförtner erwiderte seinen Gruß und versicherte von Zeit zu Zeit, daß die Zigarren ausgezeichnet gewesen seien. Wichmann aber wußte in der Schublade seines löwenbeinigen Schreibtisches die drei Karten, auf denen stand: Erster Rang, links, erste Reihe. Die Grevenhagenschen Stammplätze befanden sich rechts, Loge sieben, wie ihm der freundliche grauhaarige, gebückte Logenschließer berichtet hatte. Die junge Frau Grevenhagen pflegte auf dem Stuhl Nr. 1 zu sitzen. Der Operndiener hatte diese zweckdienliche Mitteilung ohne Wimpernzucken und mit einer so sachlichen Miene gemacht, daß sich Wichmann seine Verlegenheit bei der Frage ruhig hätte sparen können.
Ein Dutzend Teerosen waren vorbestellt. Der begleitende Umschlag ohne Namen und Absender, nur mit der Bezeichnung von Platz und Datum, war bei dem Büro des Geschäftes abgegeben.
An dem Tag, an dem dies geschehen war, hatte Oskar Wichmann in einer dienstlichen Besprechung bei seinem Vorgesetzten die Augen gesenkt. Die eine Sekunde, in der er dem hellen Blick des anderen nicht mehr standhielt, verriet ihm, daß seine Stellung zu dem Ministerialrat Justus Grevenhagen nicht mehr dieselbe war. Scham und Auflehnung waren im Mantel der Verborgenheit über ihn gekommen. Als er das Zimmer verließ, schaute ihn das Lichtgrau der Tür, die er hinter sich schloß, fremd an. Der düstere Korridor schien böse zu glotzen, und die kahle Wand, die kahlen Möbel seines Dienstzimmers waren ihm feindlich. Aber er versenkte alle diese Gesichter der Pflicht in den unteren Wassern des Bewußtseins und ließ die Wellen der Phantasie darüber hinwegspülen.
Als der 24. Februar 1929 zum Abend dunkelte, war es noch schneidend kalt. Die Feuerwehren waren herbeigerasselt, um eingefrorene Enten und Schwäne auf den Parkteichen zu befreien. Die Herren stellten die Pelzkragen, und die Damen verbargen die Nasenspitzen in Tücher, während ihre seidenbestrumpften Beine unterhalb der kurzen Röcke in der Eisluft rot anliefen. Beim Gehen zogen sich die Schulternzusammen, und Muffe waren aus Kisten und Schränken hervorgeholt worden.
Wichmann hatte für den Besuch der Oper ein Mietauto bestellt, dessen Form etwas neuer und eleganter war als die der üblichen Taxen. Er bestieg es beizeiten und gab die Adresse der Familie Casparius an. Frau Anna Maria hatte liebevoll einen Imbiß vorbereitet, den man zusammen einnahm, während der Wagen unten wartete. Frau Anna Maria sah in ihrem einfachen Seidenkleid, mit den glühenden Wangen wie die Freude und Erwartung selbst aus. Die Drillinge schliefen schon unter der Obhut der Nachbarin, der der übrigbleibende Teil der belegten Brötchen überlassen wurde. Die Herren knöpften die Mäntel zu, Anna Maria verabschiedete sich von ihren drei Lieblingen, dann stieg man gemeinsam die Treppe hinunter, an den töricht gemusterten Glasfenstern vorbei, und schlüpfte in das wartende Auto. Frau Anna Maria begann sich sicher zu fühlen wie die Prinzessin im Zauberland.
Ihre helle Fröhlichkeit steckte Wichmann an. Er floh in das Arglos-Unverbindliche ihrer Festerwartung und ließ sich gern vorplappern, daß sie heute wieder einmal, wie einst als Backfisch, die Sekunden gezählt habe bis zum Beginn des großen Abends. Casparius summte »Hoolde – A-ii-da!« und hoffte, daß der fremde Tenor sich seiner südlichen Sangessprache nicht werde berauben lassen zugunsten holzhackerischer Konsonanten. »Wichmann, es ischt wahr … liebend dahinschmelzen kannscht du nur auf ›A‹ und ›O‹ und nicht auf ›Str‹ und ›Pfr‹… Vielleicht liegt’s daran, daß wir Deutschen niemals die rechten Troubadoure geworden sind.«
Der Angeredete konnte sich nicht enthalten, heimlich an den geliebten Klang zu denken. Marion … Aber »Grevenhagen« war voll Konsonanten, und das Wappen dieses Geschlechts war ein Zaun, der eine Rose einhegte.
Der Wagen federte gut, wenn er auch nicht so leicht dahinglitt wie ein gewisses dunkelfarbiges Kabriolett. Die Residenzstraße wurde erreicht. Wagen hinter Wagen fuhr vor, schnittige Formen, viele ausländische Wagen waren darunter. Die Fülle der Menschen, die eleganten Abendmäntel, kunstvoll gelegte Locken, blitzende Ohrringe und Diademe verrieten schon an den Treppenstufen des Opernhauses den »großen Tag«. An der erleuchteten Kasse stand »Ausverkauft«. Unverbesserlich hoffnungsfreudige Herren, schmollende Damen warteten noch bei den uniformierten und betreßten Dienern auf den Glücksfall СКАЧАТЬ