Название: Wege zum Heiligen
Автор: Christian Probst
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783865063953
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Die Wege des Lebens können unergründlich sein. Das wird einem nicht nur bewusst, wenn man wie ein Pilger zu Fuß zu einer längeren Reise aufbricht. Auch auf unseren alltäglichen Wegen stoßen wir immer wieder auf Spannungen und Herausforderungen. Auf ihrer Lebensreise ziehen manche beruflich bedingt von einem Ort zum andern und fangen neu an. Andere müssen sich neu orientieren, weil frühere Strecken nicht mehr begehbar sind. Ein Traum endet in einer Sackgasse. Oder gemeinsame Wege gabeln sich plötzlich in verschiedene Richtungen: Ehepaare lassen sich scheiden. Kinder werden erwachsen und bauen sich ihre eigene Existenz auf. Lange Wegbegleiter segnen das Zeitliche. Wege führen zusammen oder auseinander. Erst wenn wir die verschiedenen Abschnitte des Lebens selbst beschreiten, erkennen wir, wo sie hinführen. Dann führen sie nicht „irgendwo durchs Nirgendwo“, fern und unerreichbar in eine ungewisse Zukunft. Sondern sie werden spürbar, erlebbar, lebendig. Franz Kafka bringt das in seinem bekannten Zitat auf den Punkt: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“
Vielleicht erfreut sich das Wandern auf Pilgerwegen in den letzten Jahren gerade deswegen so großer Beliebtheit, weil man dabei selbst den Boden unter den Füßen spüren kann. Ohne einfach über bestimmte Wegetappen hinwegzufahren oder -zufliegen, muss man dort Wege vom Anfang bis zum Ende gehen.
Die Suche nach sich selbst verbindet sich während des Laufens mit dem Streben nach etwas Höherem. Einen Pilgerweg beschreitet man oft mit der großen Hoffnung, neue Bilder in sich aufzusaugen, mit denen man den eigenen Horizont erweitern kann. Wir sehnen uns nach Erfahrungen, die uns innerlich oder äußerlich frei werden lassen. Beim Wandern können wir endlich einmal in Ruhe nachdenken oder uns auf unsere Schritte konzentrieren. Einen Fuß vor den anderen zu setzen hat besonders für alltägliche „Büro-Hocker“ oder „Gremien-Hüpfer“ eine befreiende Wirkung.
Viele sehnen sich danach, über den eigenen Schatten zu springen. Andere würden gerne die Zeit langsamer laufen lassen oder begeben sich auf die Reise, um auf die großen Fragen des Lebens eine Antwort zu finden. Wir suchen nach einer Macht, die uns auf allen Wegen begleitet. Wir würden gerne mit ihr Kontakt aufnehmen und versprechen uns davon heilvolle Erlebnisse.
Wir sehnen uns nach dem heiligen Gott, hinterfragen aber gleichzeitig seine Existenz, besonders wenn wir auf unserer Lebensreise zerbrochenen Menschen begegnen, die harte Wegstrecken zurücklegen müssen. Wir sehnen uns nach beständigen Werten, die unsere Gesellschaft prägen und unser Leben wertvoll und gleichberechtigt neben anderen stehen lassen.
Die Sehnsucht nach Anerkennung der eigenen Person bzw. allgemeiner Werte verbinden wir hoffnungsvoll mit etwas, das unsere Gedanken übersteigt, aber das uns mit einem Gefühl erfüllt, etwas „Heiligem“ begegnet zu sein.
Der Soziologe Hans Joas führt die Entwicklung der Menschenrechte auf eine persönlich gelebte Heiligkeit (Sakralität) zurück. Menschen hätten durch das Zusammenleben entdeckt, dass jedes einzelne Individuum als heilig erachtet werden müsse.4 Auch heute könne der Mensch uns wieder „heilig“ werden, wenn uns seine Würde in einem heiligenden Prozess, einem „Sakralisierungsprozess“, wieder neu bewusst würde. Ich möchte diesen Ansatz weiterführen und behaupte: Alle Wege des Lebens bieten Anknüpfungspunkte zum Heiligen. Wenn wir uns danach sehnen, stellen sich unsere Antennen auf, und wir bereiten uns darauf vor, Erfahrungen zu machen, die unser eigenes „Ich“ transzendieren. Das kann ein Sonnenuntergang mit einem überwältigenden Farbenspiel sein. Ein Konzert mit einem riesigen Orchester; der Moment, in dem man nach langen Jahren einer alten Freundin begegnet; oder wenn jemand sich im Fußballstadion rechtzeitig in eine La-Ola-Welle einreiht und danach staunt, wie die Welle auf andere überschwappt. Ein „heiliges Erlebnis“ entsteht sicher auch, wenn Menschen ihre Rechte praktizieren können und den Wert von anderen Lebewesen achten. Aber es wirkt nicht nur nach außen, sondern berührt uns ebenso in unserem Innersten. Es führt den Reisenden weiter, gibt ihm Orientierung und eröffnet vorher unbekannte Wege. Solche Erlebnisse können sogar die Grenze von Intelligenz überschreiten, reichen über unseren Verstand hinaus und können uns in Kontakt bringen mit dem heiligen Gott als einem persönlichen Gegenüber.
Unser ganzes Leben bereisen wir ähnlich wie Pilger ihren Weg zu einem Heiligtum. Voller Sehnsucht, unsere Sinne zu erweitern. Mit den großen Fragen des Lebens im Gepäck. Spiritualität, göttliche Gegenwart zählen zu den großen menschlichen Ursehnsüchten. Auf unseren Wegen stellen wir immer wieder fest, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die weder ein tiefgründiger Verstand noch die schärfsten Sinne erfassen können. Die drei großen Weltreligionen haben bis heute heilige Orte, zu denen Menschen in Scharen reisen. Jerusalem hebt sich als besonders faszinierende Stadt sicher hervor. Mich beeindrucken aber auch die Bilder von der sogenannten Hadsch, der muslimischen Pilgerreise nach Mekka, die jedes Jahr bombastischere Ausmaße anzunehmen scheint. Auch klassische christliche Pilgerstätten, wie Rom und Santiago de Compostela, erfreuen sich weiterhin außerordentlich großer Beliebtheit. Das Pilgern auf dem Jakobsweg ist im 21. Jahrhundert wieder zu einer Massenbewegung geworden.
Die Sehnsucht nach etwas Heiligem muss man jedoch nicht auf bestimmte Orte begrenzen. Das ganze Leben ist von ihr geprägt, sei es nun bewusst oder eher unbewusst. Jeden Tag setzen wir unsere Füße auf Wege. Jeden Tag wünschen wir uns Erfahrungen, die unser Leben mit etwas Heiligem bereichern. In diesem Buch soll es nicht um einen bestimmten Pilgerweg zu einem hervorragenden Heiligtum gehen.
Die sechzehn Autoren dieses Buches nehmen die sogenannten „Wallfahrtspsalmen“ (Ps. 120-134) des Ersten Testamentes zur Hilfe, um sich auf die Spur von etwas Heiligem zu machen, das unser Leben auf allen Wegen begleitet. Die Psalmen wurden wahrscheinlich früher tatsächlich auf den Pilgerwegen nach Jerusalem gesungen. Durch ihre Kürze und einen volksnahen „Touch“ kann man sich sogar vorstellen, dass sie von den Pilgern wie ein kleines Gebetbüchlein mitgeführt wurden.5 Die fünfzehn Psalmen passten gerade auf eine kleine Papyrusrolle und somit gut ins Handgepäck.
Seit meinem ersten theologischen Examen haben mich diese Psalmen nicht mehr losgelassen. Ich wollte sie unbedingt gedanklich und musikalisch zum Klingen bringen.6 In ihnen stecken die unterschiedlichsten Themen, die man mit Lebenswegen verbindet. Sie stellen durch ihr gottesfürchtiges Lob und ihr tiefgründiges Ringen und Klagen Verbindung zu dem Heiligen Gott „JHWH“ her. Diese Psalmen bringen unsere Gedanken auf eine Spur, die uns auf der Pilgerreise des Lebens die Lichtstrahlen des Heiligen in und um uns entdecken lässt.
Christian Probst, Jahrgang 1973, ist evangelischer Theologe und Musiker. Er hat schon bei diversen Musikprojekten mitgewirkt und komponiert Lieder, die auch bei Gottesdiensten, Band- und Chorkonzerten eingesetzt werden. Derzeit arbeitet er als Pfarrer in Fürth-Burgfarrnbach.
Sehnsucht
Psalm 120
1 Zu Gott in solcher mir gewordenen Not habe ich schon gerufen und Er antwortete mir.
2 Gott rette meine Seele von Lügen-Lippe, von trügerischer Zunge.
3 Was gibt es dir, was mehrt es dir, trügerische Zunge!
4 Eines Mächtigen Pfeile sind schon geschärft, nebst immer glimmenden Kohlen.
5 Erwünschter wäre es mir, ich hätte unter Meschech geweilt, hätte gewohnt bei Kedars Zelten.
6 Übersatt hat sich meine Seele gewohnt bei Hassern des Friedens.
7 Ich bin Friede, auch wenn ich rede. Sie sind des Krieges.
(Übersetzung nach Rabbi Samson Raphael Hirsch)7
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