Название: Nichts ist verjährt
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520717
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«Papa, bist du eigentlich immer gern zur Schule gegangen?», fragte der Sohn, als sie im Auto saßen.
«Natürlich», log Mannhardt. «Es ist doch ein Segen, dass es die Schule gibt. Stell dir mal vor, wir würden nicht schreiben und lesen lernen. Was dann? Dann könnten wir den ganzen Tag nichts weiter tun, als vor der Glotze zu sitzen.»
«Das wär doch geil.»
Mannhardt stöhnte auf. Zum einen wegen der mit übermäßigem Fernsehgenuss verbundenen Volksverblödung, zum anderen, weil er immer heftig darunter litt, wenn die Kids das Wort «geil« verwendeten. In seiner Jugend hatte es einzig und allein für sexuelle Erregung gestanden, und als pubertierende Knaben hatten sie gereimt: «An den Akku angeschlossen, / vögelt Fickfack unverdrossen. / Kerzen, Möhren und Bananen, / ja, der Laie kann’s kaum ahnen, / was dieses geile Weib/schob sich in den Unterleib.»
Als er den Jungen vor der Schule absetzte, tat er ihm maßlos leid. Anstatt zu spielen und zu juchzen, musste Silvio sich jetzt mit Mathematik und Grammatik abquälen, und es überwog noch immer der Frontalunterricht preußischer Prägung. Was mussten jene Kinder leiden, die nicht einsehen wollten, warum es Pferd hieß und nicht Ferd, obwohl nur Bekloppte das P vorne deutlich aussprachen. Ohne kräftig Tröpfchen in die Luft zu spucken, ging das gar nicht.
Was ihn tröstete, war derselbe Operettenvers aus der Fledermaus von Johann Strauß, der schon seinen Eltern geholfen hatte: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Und wer immer strebend sich bemühte, dem wurde ja die Erlösung versprochen. Gut war nur, dass die Kinder nicht für das Leben lernten wie er früher, sondern nur für die Schule, denn das ließ hoffen.
Seit langem schon hatte Mannhardt auf das Auto verzichtet und setzte sich in die U-Bahn, um von Tegel aus ins Büro zu fahren. Dies war aber im Augenblick alles andere als eine Freude, denn zwischen Alt-Tegel und Kurt-Schumacher-Platz wurde die U6 runderneuert, und man musste den Bus benutzen. Und wenn er eines hasste, dann den Schienenersatzverkehr.
Heike arbeitete gerade an einer Radiosendung über die Berliner U-Bahn, und mit Vergnügen blätterte er immer wieder in ihrem Manuskript. 144,9 Kilometer Streckenlänge, 170 Bahnhöfe, seit 1902 in Betrieb. Schön waren die Geschichten um die U-Bahn. Ein George A. Goldschlag hatte sogar Die Ballade von der Untergrundbahn gedichtet, mit Versen wie: Elfmal jährlich, laut Statistik,/Springt ein Mensch mit schrillem Schrei/Als verkörperte Ballistik/Vor den Zug und wird zu Brei. Ab und an wurde auch die Mordkommission gerufen, wenn es hieß «Person im Gleis», denn es fielen nicht nur Selbstmorde und Unfälle an, sondern ab und an wurde auch jemand auf die Gleise gestoßen.
Die Busfahrt bis zum Kurt-Schumacher-Platz nervte, und an der provisorischen Endhaltestelle war der Zug in Richtung Alt-Mariendorf schon voll bis oben hin, aber er konnte sich gerade noch hineinquetschen.
Der Mensch, so hatte es bei Heike ein Psychologe ausgedrückt, sei ein Distanztier, und innerhalb von sechzig Zentimetern befinde man sich in der Intimzone des anderen. Schnell hatte Mannhardt herausgefunden, dass er sich bereits in der Intimzone von drei Frauen gleichzeitig aufhielt, ohne dabei jedoch auch nur ein Mindestmaß an Lust zu empfinden. Die eine litt unter Akne und roch nach faulendem Heu, die zweite war vom Kaliber «Alles hört auf mein Kommando!» und jagte ihm nur Angst und Schrecken ein, und die dritte war zwar jung und morgenschön, aber so dämlich, dass es schon weh tat. Wie sie mit ihren Klassenkameradinnen kommunizierte, rechtfertigte jede Befürchtung, nach der die Deutschen im intellektuellen Wettbewerb mit anderen Völkern hoffnungslos unterlegen sein würden. Da aber auch die drei Frauen ihn abscheulich fanden, war das Unbehagen geradezu mit Händen zu greifen. Man mied jeden Blickkontakt, schaute auf den Bildschirm an der Decke des Waggons, auf dem die neuesten Nachrichten flimmerten, oder in eine unbestimmte Ferne. Mannhardt erinnerte sich an eine Szene aus Heikes Feature, in der vom englischen Premierminister Tony Blair berichtet wurde, wie der einmal – ganz volksverbunden – in der U-Bahn eine Sitznachbarin angesprochen hatte und mit einem bösen Blick und eisigem Schweigen abgestraft worden war.
Um nicht der Frottage bezichtigt zu werden, dem Reiben der Genitalien am Körper eines anderen, und damit als Sittenstrolch dazustehen, versuchte Mannhardt, sich so wenig wie möglich zu bewegen und den Frauen den Rücken zuzuwenden. Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass sich in Tokio, wo das Grapschen zur Manie geworden war, die Männer demonstrativ mit beiden Händen oben an den Griffen festhielten, um nicht in Verdacht zu geraten.
Am Leopoldplatz hatte er von der U6 in die U9 umzusteigen. Eine Zeitung hatte am letzten Ersten gemeldet, die großen Clubs des American Football würden ihre Spieler zum Training auf die großen Berliner Umsteigebahnhöfe schicken, und dazu einen Star der Berlin Thunder abgebildet. Natürlich war das ein Aprilscherz gewesen, doch er hatte es für logisch gehalten und geglaubt. Auch heute wieder verspürte er eine gewisse Regung, seine Dienstwaffe zu ziehen und wenigstens in die Luft zu schießen, um den Zug auf dem unteren Bahnsteig zu erreichen. Ohne dieses Mittel hatte er keine Chance gegen die Lahmärsche, die ihm den Weg versperrten. Als er endlich unten angekommen war, hörte er nur noch das harsche «Zurückbleiben bitte!», und weg war sein Zug.
Sein Vater hatte bei solchen Anlässen immer gemurmelt: «Wieder habe ich einen fahren lassen.» Dass damit das Flatieren gemeint war, verstand heute kein Mensch mehr, ebenso wie sie ihn ahnungslos ansahen, wenn er den Kollegen erzählte, dass ihr neuer Vorgesetzter im Flur «einen Koffer« habe stehen lassen. Sein Großvater hatte immer eine diebische Freude daran gehabt, in der überfüllten U- oder S-Bahn «einen durch die Reihen schleichen« zu lassen.
Das war das Schöne an der U-Bahn, dass der nächste Zug schon nach fünf Minuten kam. Und er bekam sogar einen Sitzplatz. In seinem Alter hatte er auch einen Anspruch darauf.
Zoologischer Garten stieg Mannhardt aus und überlegte einen Augenblick, ob er in die U2 umsteigen und bis zum Wittenbergplatz fahren oder zu Fuß zu seiner Dienststelle in der Keithstraße laufen sollte. Schließlich entschied er sich für den Fußweg, denn es war immer ganz spannend, an der Rückseite des Zoologischen Gartens entlangzulaufen. Links hatte man die Kolonnaden mit ihren vielen Läden, das Aquarium und den Nebeneingang des Zoos, rechts den Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche und den Prachtbau der Grundkreditbank.
Ein Tourist aus St. Irgendwo sprach ihn an. Wo denn hier der Olof-Palme-Platz sei.
Mannhardt zuckte mit den Schultern. «Tut mir leid, nie gehört.»
Sekunden später sah er anhand der Schilder, dass er mitten auf dem Olof-Palme-Platz stand, einer Ausbuchtung der Budapester Straße an ihrer Kreuzung mit der Nürnberger und der Kurfürstenstraße. Peinlich. Besonders für einen Kriminalbeamten. Schnell machte er, dass er weiterkam.
Die Tage, die Mannhardt noch ins Büro ging, waren gezählt, und sein Nachfolger saß schon bei ihm im Zimmer, um eingearbeitet zu werden. Der Kollege hörte auf den Namen Rico Schönbier und war noch so jung, dass es eine einzige Provokation war. Mannhardt hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Schönbier sah aus wie ein hoffnungsvoller Fußballer aus der Oberliga, die Haare teilweise blond gefärbt und mit viel Gel zu Stacheln aufgerichtet und geistig nur so weit entwickelt, dass es seine Instinkte beim Passen und Toreschießen nicht sonderlich störte. Das Fitnessstudio war sein zweites Zuhause. Dort holte er sich die Kondition, um durch die Clubs der Stadt zu ziehen und ständig neue Frauen zu beglücken. Hörte er das Wort Kultur, schrie er nur «Scheiße!» und machte sich aus dem Staub. Auch von Politik hielt er nichts und vermied es, sich die Namen der Akteure zu merken. «Wenn ich die bei mir im Gehirn speichere, tue ich diesen Hanseln doch zu viel Ehre an.» Aber auch um die Heroen des Showgeschäfts, der Medien und des Sports kümmerte er sich wenig. «Was interessieren mich diese Arschlöcher?!» Er, Rico Schönbier, war das Maß aller Dinge, und an ihm gemessen waren das alles nur Blender. «Von irgendwelchen Idioten hochgepusht, um Geld mit ihnen СКАЧАТЬ