Название: Es ist kompliziert
Автор: Rachel Held Evans
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783865069146
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Die Religiösen haben es schon immer auf uns Nachteulen abgesehen. In meinem Stundenbuch steht, die Morgengebete sollten zwischen 4.30 Uhr und 7.30 Uhr gesprochen werden. Wie ich zu einer Zeit, in der ich schon meinem Mann gegenüber kaum einen zusammenhängenden Satz herausbringe, mit Gott sprechen soll, weiß ich beim besten Willen nicht. Dennoch heißt es von den am höchsten verehrten Heiligen der Kirche, sie sollen Frühaufsteher gewesen sein. Außerdem erinnere ich mich, wie Pastoren in meiner Kindheit ehrfürchtig über ihre Stille Zeit am frühen Morgen sprachen, als habe Gott strenge Sprechzeiten. Sogar die großartigen Kathedralen dieser Welt haben ihre Eingangstüren im Westen und die Altäre im bevorzugten Osten. Alte europäische Friedhöfe, mit verwitterten Grabsteinen hier und da, spiegeln bis heute die Sitte wider, die Toten mit den Füßen zur aufgehenden Sonne hin zu begraben, wobei die aufgehende Sonne Hoffnung symbolisiert und für die Erwartung steht, dass bei der Wiederkunft Christi die Gläubigen vom Tode auferstehen und ihm in die Augen schauen werden. Ich kann nur hoffen, dass das alles in meiner Zeitzone irgendwann nach neun Uhr morgens stattfindet.
Wenn die frühen Morgenstunden tatsächlich der Gemeinde des auferstandenen Christus gehören, dann schläft meine Generation aus.
In den Vereinigten Staaten haben 59 % der jungen Erwachsenen im Alter von 18 – 29 Jahren mit einem christlichen Hintergrund der Kirche den Rücken gekehrt. Unter denjenigen von uns, die um das Jahr 2000 herum volljährig wurden, behauptet ein gutes Viertel, sie hätten überhaupt keine religiöse Zugehörigkeit, was uns noch deutlicher vom Glauben trennt als die Mitglieder der „Generation X“ zur gleichen Zeit in ihrem Leben. Und wir sind sozusagen doppelt so sehr dem Glauben entfremdet wie die „Baby Boomer“, als sie in unserem Alter waren. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass etwa acht Millionen junger Erwachsener die Kirche vor ihrem 30. Geburtstag verlassen werden.3
Mit 32 gelte ich gerade noch so als „Millennial“, als ein Mitglied der Generation Y. (Sagen wir es so: Ich besitze immer noch eine Menge aufgezeichneter Folgen von Friends – auf Kassetten!) Aber obwohl ich mit einem Fuß in der Generation X stehe, neige ich dazu, mich am stärksten mit den Haltungen und dem Ethos der Generation der Jahrtausendwende zu identifizieren, und deswegen werde ich häufig darum gebeten, vor Gemeindeleitern darüber zu sprechen, warum junge Erwachsene die Kirche verlassen.
Darüber könnte man unzählige Bücher schreiben, und das haben ja auch schon so einige gemacht. Ich kann nicht hinreichend über die sozialen und geschichtlichen Entwicklungen sprechen, die das religiöse Leben Amerikas nicht nur prägen, oder über die Kräfte, die so viele meiner Altersgenossen vom Glauben an und für sich wegzerren. Die Probleme, die die Evangelikalen umtreiben, sind andere als die, die Protestanten im Allgemeinen so beschäftigen, welche sich wiederum von denen unterscheiden, die katholische oder episkopale Pfarreien betreffen, welche wiederum ganz anders sind als die, die auf das Christentum dort Einfluss nehmen, wo es tatsächlich im Aufschwung ist – nämlich im globalen Süden und Osten.
Aber ich kann meine eigene Geschichte erzählen, die, so deuten es Studien an, anscheinend immer gewöhnlicher wird.4 Ich kann darüber sprechen, wie ich in einem evangelikalen Umfeld aufgewachsen bin, wie ich alles, was ich je über Gott geglaubt habe, angezweifelt habe, wie ich die Kirche geliebt, verlassen und mich nach ihr gesehnt habe und wie ich nach ihr gesucht und sie an unerwarteten Orten gefunden habe. Und ich kann von den Geschichten meiner Freunde und Leser erzählen, von alten und jungen Leuten, deren Kommentare, Briefe und E-Mails sich lasen wie Postkarten von ihrer geistlichen Reise, Depeschen aus Amerikas nachchristlichem Grenzland. Die Lösungen, nach denen die Gemeindeleiter suchen, kann ich nicht bieten, aber ich kann die Fragen formulieren, die viele aus meiner Generation stellen. Ich kann ein wenig von ihrer Angst und ihrer Hoffnung beschreiben.
Das jedenfalls habe ich versucht, als ich neulich gebeten wurde, 3000 evangelikalen Jugendmitarbeitern bei einer Konferenz in Nashville, Tennessee, zu erklären, warum Millennials aus der Kirche austreten.
Ich sagte ihnen, wir hätten den Kulturkrieg satt, hätten es satt, dass das Christentum sich mit Parteipolitik und Macht einlässt. Wir Menschen der Generation Y wollen dafür bekannt sein, wofür wir stehen, sagte ich, nicht nur, wogegen wir sind. Wir wollen uns nicht entscheiden zwischen Wissenschaft und Religion oder zwischen unserer intellektuellen Integrität und unserem Glauben. Stattdessen sehnen wir uns danach, dass unsere Kirchen sichere Orte sind, wo wir zweifeln und Fragen stellen und die Wahrheit aussprechen können, auch wenn die unbequem ist. Wir wollen über das schwer verdauliche Zeugs sprechen – biblische Auslegungen, religiöse Vielfalt, Sexualität, die Versöhnung der Rassen und soziale Gerechtigkeit – aber ohne vorgegebene Lösungen oder einfache, oberflächliche Antworten. Wir wollen unser ganzes Selbst über die Schwelle der Kirchentür bringen, ohne unser Herz oder unseren Verstand draußen zu lassen, ohne eine Maske zu tragen.
Ich erklärte, wenn unsere schwulen, lesbischen, bisexuellen und transgender Freunde nicht bei Tisch willkommen seien, fühlten wir uns auch nicht willkommen, und dass nicht jeder junge Erwachsene heiratet oder Kinder bekommt – was bedeutet, dass wir aufhören müssen, unsere Gemeinden um Kategorien herum aufzubauen. Stattdessen sollten wir anfangen, sie um Leute herum aufzubauen. Und ich sagte ihnen, dass wir, entgegen beliebter Vorurteile, eben nicht mit hipperen Lobpreisbands, schnieken Kaffeebars oder Pastoren in skinny Jeans zurückgewonnen werden können. Wir Millennials sind unser ganzes Leben lang Werbung ausgesetzt gewesen, deswegen riechen wir Bullshit auf einen Kilometer Entfernung. Die Kirche, die Gemeinschaft der Christen, ist der allerletzte Ort, an dem wir uns noch ein Produkt andrehen lassen oder unterhalten werden wollen.
Millennials suchen nicht nach einem „moderneren“ oder „hipperen“ Christentum, sagte ich. Wir suchen nach einem wahrhaftigeren Christentum, einem authentischeren Christentum. Wie jede Generation vor uns und jede nachfolgende auch suchen wir nach Jesus – demselben Jesus, der an jenen seltsamen Orten zu finden ist, an denen er schon immer zu finden war: in Brot, in Wein, in der Taufe, im Wort, im Leiden, in der Gemeinschaft und unter den Geringsten von ihnen.
Kaffeebars oder Nebelmaschinen werden nicht gebraucht.
Natürlich sagte ich all das mitten auf einer riesigen Bühne, die voll ausgestattet war mit Beleuchtung, Trampolinen und, Tatsache, einer Nebelmaschine. Ich fühle mich bei solchen Veranstaltungen nie so ganz wohl – nicht weil meine Worte nicht willkommen oder nicht wahr wären, aber weil ich mich überfordert fühle, wenn ich sie sage. Ich bin keine Wissenschaftlerin und keine Statistikerin. Ich habe nie eine Jugendgruppe geleitet, war nie Pastorin einer Gemeinde. Die Wahrheit sieht so aus, dass ich mich an vielen Sonntagmorgen nicht einmal aus dem Bett hieve, besonders an Tagen, an denen ich mir nicht sicher bin, ob ich an Gott glaube, oder an denen ein interessanter Talkgast bei „Meet the Press“ eingeladen ist. Vor einem Haufen Christen über die Kirche zu sprechen bedeutet für mich, an ein Mikro heranzutreten und zu versuchen, in dreißig Minuten oder weniger die wichtigste, komplizierteste, schönste und herzzerreißendste Beziehung meines Lebens zu schildern, ohne dabei zu schreien oder zu weinen oder schlimme Wörter zu benutzen. Manchmal wünschte ich, sie würden jemanden mit etwas mehr emotionalem Abstand für diese Vorträge finden, jemanden, der sich nicht komplett auf links drehen muss und all sein Herzblut vergießt, nur weil jemand ganz harmlos fragt: „Und in welche Gemeinde gehst du so zurzeit?“
Vielleicht liegt es daran, dass ich dieses Buch nicht schreiben wollte … Jedenfalls am Anfang nicht. Oh, ich habe versucht, aus der Nummer herauszukommen. Ich habe an alternativen Vorschlägen und Exposés herumgestrickt und gefeilt und ein paar davon meinem Verlag vorgestellt, in der Hoffnung, die Lektoren würden es sich noch einmal anders überlegen. Das Buch dann zu schreiben dauerte doppelt so lange wie geplant. Obendrein habe ich eine riesige Tasse Chai über meinem СКАЧАТЬ