Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
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Название: Dämmer und Aufruhr

Автор: Bodo Kirchhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783627022631

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СКАЧАТЬ war, dass sie vom Erhebenden dieses Liedes trotz allen Leids durch den Krieg mit emporgehoben wurden. In jedem Fall beendete aber die Hochzeit den Kriegskummer offiziell. Der Verlust von Vater und Verlobtem und der Verlust eines Beins und der gemeinsame Verlust von Jugend hatte einen Ausgleich erhalten, nur ein tieferer Schmerz infolge aller Verluste blieb, und er ist im Verlauf dieser Ehe, samt den Versuchen, ihm zu entfliehen – der letzte vielleicht im Hotel Beau Sejour in Alassio –, eine der Ursachen ihres Scheiterns. Beide, mein Vater wie meine Mutter, haben sich immer wieder dorthin gestürzt, wo sie das Glück vermuteten, er das seine, sie das ihre, und in dem Maße, wie diese Stürze Stürze blieben, ohne das Netz eines Alltags, festigte sich, zusammengehalten von Stolz, eine Privatwelt aus Eigensinn, Distanziertheit und Trauer: und noch der Stolz des Sohnes bemisst sich aus dem Abstand, der sich zwischen ihm und der Welt errichten lässt (so offensichtlich auch diese Distanz nur Ausdruck fehlender Mittel ist, sich als Teil der Welt zu erleben).

      Einer der Stürze ins Glück, sieben Jahre nach Kriegsende im Frühsommer zweiundfünfzig, war zweifellos der von Kitzbühel mit dem knapp vierjährigen Sohn als Begleiter – Herrgott, ist das schön!, ruft die junge Mutter mit Blick auf die Berge. Und doch gibt noch immer die Kriegskatastrophe den Ton an, nicht nur bei ihr, auch bei dem, der in Hamburg geblieben ist, um die kleine Firma weiter aus dem Boden zu stampfen, obwohl es an Geld fehlt, Tag für Tag. Beide schlingern durch diesen Sommer, beide glauben zu wissen, wo das Glück liegt, beide beschwören es wortreich, während sie in Wirklichkeit, ihrer eigenen und einzigen, die zählt, noch nicht aufgehört haben, durch die ersten Winter nach dem Krieg zu taumeln, mit gefälschten Lebensmittelkarten (mein Vater war Meister darin) und Zigaretten aus Amerika (vom Bruder des Vaters, nach dem ich benannt bin) als Zahlungsmittel auf dem Schwarzmarkt. Und bei all dem ohne jede Aussicht, dass es je wieder anders würde, statt all der Trümmer Paläste aus Glas und Stahl aufragten, statt der leeren Theken ein Überquellen von Waren wäre, von hundert Brotsorten und Feinkost aus aller Welt, und man statt dem En-suite-Spielen auf eisigen Bühnen, in Kiel, in Celle, in Lübeck, in Flensburg, auf den überweichen Händen des Fernsehens getragen würde oder statt Märschen auf einem Bein quer durch Hamburg, um irgendwo Briketts aufzutreiben, die Drehung an einem Knopf genügte, damit es in der ganzen Wohnung warm wird (heute sogar per Smartphone). Beide hatten noch nicht aufgehört, durch ihr Nachkriegsdunkel zu irren, eingeschlossen in etwas unmenschlich Maßlosem, das mit seinem Getöse, seinem Gebrülle und Stechschritt, mit all den grauenhaften Clownerien der Macht – vom Krieg wagt der Sohn gar nicht zu reden auf seinem Hotelzimmerbalkon mit Meerblick – die Oberfläche ihrer äußeren und auch inneren vertrauten Welt bis zur Unkenntlichkeit geschleift hat. Und womöglich ist es dieses Zerstörungsgeräusch, das ihnen noch, gleich einem Tinnitus, in den Ohren liegt und die Laute eines Kindes übertönt, das schon früh lernt, mit sich allein zu sein, nicht zu ertrinken in schier endlosen Nachmittagsstunden. Ein Nachhall des großen Grauens reicht sogar bis in den siebten Ehejahrbericht der jungen liebenden Schauspielerin und Mutter, noch auf der allerletzten Seite, der hinteren Innenseite des Einbands der Kladde, schwingt ein imperativer Ton mit. Dort steht, nach der bereits unterschriebenen Schlusszeile, als Apotheose eine mit Liebeslied überschriebene Hymne: Durch Dich hat die Welt nur ein Gesetz und einen Sinn, ich liebe Dich, solang ich bin / Durch Dich hat die Welt nur ein Gesetz und ein Gebot, ich bleibe bei Dir bis in den Tod / Nichts ist so vollkommen wie das Glück, das uns vereint / Das Dir erscheinen mag als Märchentraum, doch unser wahres Leben ist!

      Ich höre meine Mutter deklamieren, wenn ich diese Zeilen lese, Beschwörung war ihr Mittel, zusammenzuhalten, was an sich nicht zusammenpasste, oder zu überspielen, dass jeder, sie und mein Vater, mit seinen Wunden, seinen Wünschen, einem Lebenstraum, letztlich allein war. Die äußere Not nach dem Krieg, der Mangel an Nahrung und Wärme, und etwas später der an Geld, Wissen und Schönheit ist das Siegel über der inneren Not, die dadurch kaum zur Sprache kommt, höchstens zum Ausbruch. Die nicht sichtbaren Wunden aus dem Krieg (die von Millionen, meine Eltern eingeschlossen) sind auch in den Nachkriegsjahren noch ein unbetretenes Gebiet. Alle Anstrengungen zielten darauf, fremdes Gebiet zu erobern und die Eroberer schließlich zurückzudrängen, und das Reich der geheimen verwundbaren Stellen, zu denen man Zuflucht nimmt, wenn einem sonst nichts gehört, blieb sich selbst überlassen (oder klang nur in einem Lied wie Lili Marleen an); die, die das Terrain der Gefühle seit Beginn des Jahrhunderts betreten hatten, waren entweder emigriert oder mehr als mundtot gemacht worden. Neben einem Wissensmangel ist es auch der Mangel an eigener begriffener Sprache, der die Berichte einer Glücksbesessenen, meiner Mutter, über ihre Ehejahre durchzieht, ein Mangel aus dem Überfluss an Bühnensprache, die sich beliebig einsetzen lässt; immer wieder spielt sie junge Damen mit überspannten Worten für überspannte Gefühle, über tausendmal etwa in Oscar Wildes’ Idealem Gatten, Abend für Abend auf jeder ungeheizten Bühne Norddeutschlands.

      Es bestand kein Mangel an Wörtern, und so gab es sie auch im Überfluss in dem Sommer, als die Schauspielerin und ihr kleiner Kavalier durch Kitzbühel ziehen und er wildfremde Damen zu grüßen hat, mit einem Diener und der Anrede Gnädige Frau, wobei ein leises Gnä’ Frau genügt; immer zur Teestunde geschieht das, nach längerem Sichfeinmachen in dem Gasthofzimmer, in das man mittags aus der Badeanstalt Seebichel geflüchtet ist, wenn dort alles zu viel wurde, die Leute, die Sonne, die Fliegen. Das Zimmer unter dem Dach mit seiner Mittagsluft zum Ersticken ist eine Höhle, in der man die Welt hinter sich lässt; das Infantenkind hockt zwischen den Kniekehlen der Mutter und folgt den eigenen Blicken, wohin sie fallen, mit seinen Fingern, mit dem Bleistift – im Übrigen ein Vorgehen mit links, wie ein verfrühter Triumph des geborenen Linkshänders, der unter Druck mit rechts das Schreiben lernen sollte (und gleichwohl bis heute nur mit der richtigen falschen Hand sich die Zähne putzt oder einen Regenschirm hält, telefoniert oder imstande ist, jemanden zu streicheln).

      Die linke Hand, geschickter zwar, aber anfälliger für Versuchungen, gehörte der Mutter, die andere, unbeweglichere, dafür mehr der Vernunft verbunden, dem Vater. Ihm fehlte das rechte Bein, nicht das linke, und seine Erfahrung war, dass man nicht den Mangel auf der einen Seite durch besondere Artistik auf der anderen ausgleichen kann, es blieb immer ein leichtes Hinterherhinken mit dem Holzbein – für den kleinen Sohn ein Mysterium, besonders der Halt des schweren hölzernen Beins am narbenfaltigen Stumpf. Und jedes seltene Wort des Vaters über den Verlust des richtigen Beins, etwa dass ihm bei einer Schlacht im Winter ein Stahlsplitter von seinem getroffenen Panzer ins Knie gedrungen sei, ohne dass er mehr gemerkt habe als etwas Warmes im Knie, wiegt wie die wenigen Worte der Mutter in dem gemeinsamen Mittagsbett. In das Kind aber dringt damit ein Stück Sprache, an dem es sich fortan bis zur stillen Ekstase reiben kann, wenn es an das fehlende Bein des Vaters denkt, wie es wohl ausgesehen haben mochte und wie sich der narbige Stumpf anfühlt, oder wenn es das mütterliche Schlaflied echohaft nachsingt, um sich an Nachmittagen ohne Anfang und Ende, die Schauspielerinmutter bei der Probe, aufzulösen in der inzwischen elterlichen Wohnung am sogenannten Grindelberg. Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck’: Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Ganz und gar unbegreifliche Worte sind das (alte Volksworte aus Des Knaben Wunderhorn), Rätselbilder, Rätselwörter, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt. Abend für Abend singt Damemammi, zurück von der Probe, am Kinderbett mit leiser, vom eigenen Gesang gerührter Stimme diese Zeilen, bis damit Schluss ist, sie abends wieder Theater spielt. Doch das Kind weiß sich zu helfen, es singt einfach selbst, es bemuttert sich. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, singt es gegen die Wand gedreht, eine Tapete mit den Konturen von Segelschiffen. Der Glaube an die, die ihn abends in den Schlaf singt, und sein Glaube an Gott sind durch nichts zu erschüttern, auch nicht durch das Alleinsein, ja, sein Ertragen des Fehlenden zeigt nur das Weitreichende der Mutter, ihren beruhigenden Schirm, sonst würde es ja in der Wohnung toben, treten, sein Spielzeug kaputt machen und müsste, wie alle Unartigen, in den Kindergarten und könnte nicht mehr an der Hand seiner großmütterlichen Hüterin nach Belieben durch den nahen Innocentiapark bummeln und sich über die, die dort in Reih und Glied unter Aufsicht eines ältlichen Fräuleins marschieren, lustig machen: Kindergarten, Schweinebraten! Also lieber vor sich hin singen, zur Tapete gedreht, lieber all die Schiffe zählen und ihre Linien mit dem Finger nachfahren.

      Im Leseraum des kleinen alten Hotels, in das meine noch СКАЧАТЬ