Название: Tunnel über der Spree
Автор: Hans Christoph Buch
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783627022723
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Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache. Vermutlich bist Du es leid, lieber Peter, von einer Art jüngerem Bruder verfolgt zu werden, den Redakteure und Kritiker gelegentlich mit Dir verwechseln, denn mit Deinen vielen Geschwistern bist Du schon gesegnet und gestraft genug. Ich weiß nicht, ob Du die Rolle selbst angestrebt hast oder ob sie Dir von der Umwelt zudiktiert wurde: Aber für Autoren meiner Generation warst Du der Vordenker der Studentenrevolte, der eloquenter als andere deren Anliegen vertrat, und hast »avant la lettre« den kulturrevolutionären Aufbruch von 1968 legitimiert. Auch wenn Dir manches, was Du damals geäußert hast, im Nachhinein fragwürdig erscheint, brauchst Du nichts zu bereuen oder zu widerrufen, weil Du weder mit Terroristen sympathisiertest noch stalinistischen Parteien auf den Leim gingst. In der hysterisierten Atmosphäre des »deutschen« Herbsts 1977 gehörte Mut dazu, der Verschwörungstheorie zu widersprechen, wonach »der Staat« Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin ermordet habe. In diesem Sinne war und ist auf Deine Stellungnahmen Verlass, weil sie auf Qualitäten beruhen, die Seltenheitswert haben im öffentlichen Diskurs der BRD: Spontaneität, Neugier und Unerschrockenheit – ein Denkansatz, der auch dann nicht veraltet, wenn die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen revisionsbedürftig sind.
PS
Beim Wiederlesen dieser Zeilen fällt mir auf, wie verzweifelt unpersönlich sie klingen. Weder ist von der Lähmung die Rede, die das rhythmische Klappern Deiner Schreibmaschine im Nebenzimmer hervorrief, während Du in unserer Moabiter Gemeinschaftswohnung den Text Wir haben Fehler gemacht tipptest, eine Agitationsrede, deren Grundstruktur: »Wir dachten, die Dinge seien soundso, doch in Wahrheit waren sie ganz anders« in vielen Deiner Essays wiederkehrt. Auch von der gemeinsamen Chinareise oder von unseren Eskapaden in Hongkong und Bangkok ist hier nicht die Rede, ganz zu schweigen von unseren Abenteuern in Venedig, Madrid und Montreal, wo ich an Deiner Stelle interviewt wurde. Das lag nicht allein daran, dass ich schlecht höre: Als drittes von vier Geschwistern habe ich mich an meinem älteren Bruder orientiert, der für mich die Stelle des Vaters vertrat, und ohne diesen Fixpunkt kommt die Gesellschaft mir vaterlos vor. Damit ist weder der große Bruder aus Orwells Roman 1984 gemeint noch der Präsidentendarsteller im Weißen Haus, sondern jemand, dessen »auffälligste Eigenschaft ist / im Plural zu leben und zu denken«, wie Du nach dem Attentat auf Rudi Dutschke schriebst: »Beim Croquet sagt er zum Beispiel / Schnauze halten, wenn er am Schlag ist / und einer, um ihn durcheinanderzubringen / dazwischenredet. Er muss das sagen / weil er sich tatsächlich stören lässt / Er ist unglücklich, wenn er einen Namen / auch einen beiläufigen, vergessen hat / Da er großes Vertrauen zu den Menschen hat / hat er Selbstvertrauen, auch umgekehrt.« Damit, lieber Peter, hast Du nicht nur Rudi Dutschke, sondern auch Dich selbst charakterisiert. Mach weiter so, denn Literatur ist nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch des Charakters! In alter Freundschaft – Dein H. C.
Wird’s bald besser?
Klaus Schlesinger zum Beispiel
Als ich Klaus Schlesinger Mitte der siebziger Jahre kennenlernte – das genaue Datum ist aus den Stasi-Akten ersichtlich, denn er wurde rund um die Uhr observiert –, lebte er in einem Hochhaus an der Leipziger Straße: aus westlicher Sicht eher bescheiden, für einen DDR-Bürger jedoch äußerst privilegiert. Unser konspirativer Kaffeekranz, bei dem Günter Grass, Nicolas Born, Reinhard Lettau, Günter Kunert, Hans Joachim Schädlich und Sarah Kirsch sich aus in Arbeit befindlichen Manuskripten vorlasen, fand in Schlesingers Wohnung statt; auf der Straße vor dem Haus parkte ein Kleinbus, dessen Insassen das Kommen und Gehen der Dichter observierten, ohne zu verstehen, was diese miteinander besprachen. In meiner Erinnerung war dies das letzte einer Serie informeller Treffen in Ostberlin, die die Stasi misstrauisch überwachte. Als nach der Wende die Akten geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass sie bis zuletzt im Dunkel getappt hatte über Sinn und Zweck der privaten Zusammenkünfte, weil es ihr nicht gelungen war, einen Spitzel in den hochkarätigen Gesprächskreis einzuschleusen. Rückblickend von der fünfzehn Jahre später erfolgten Wiedervereinigung, will es mir scheinen, als hätten die Kontakte einem ersten, vorsichtigen Kennenlernen ost- und westdeutscher Literaten gedient.
Der Rest der Geschichte ist bekannt. Weniger bekannt sind die Umstände von Schlesingers Übersiedlung nach Westberlin, die keine Ausbürgerung war: Auf eigenen Wunsch durfte er seinen DDR-Pass behalten und – ein Privileg, das zu Gerüchten Anlass gab – auch nach Ostberlin zurückkehren. Kurz vor der Ausreise begegnete er in der Leipziger Straße Erich Honecker, der gerade seine im gleichen Haus wohnende Tochter besuchte. Als die Aufzugtür aufglitt, stand Schlesinger Auge in Auge mit dem Parteivorsitzenden, der nach kurzem Zögern, flankiert von zwei Leibwächtern, den Lift betrat. Beide kannten sich von früher, und Honecker war über Schlesingers Ausreiseantrag informiert. Er blickte verlegen an die Decke, und um das Schweigen zu brechen, stellte Klaus Schlesinger ihm eine Frage, die nur aus drei Worten bestand: »Wird’s bald besser?« Honeckers Antwort war genauso knapp und klingt in ihrer kaustischen Kürze wie eine Übersetzung aus dem Russischen: »Andere sind zufrieden.«
Nach der Ankunft in Westberlin beteiligte Schlesinger sich an sozialen Protesten in der Bundesrepublik. Zu Besuch im Wendland, wo er vorübergehend bei mir wohnte, fuhr er in das von Demonstranten errichtete Hüttendorf auf dem Bauplatz für ein geplantes Endlager bei Gorleben, um mit den Atomgegnern zu diskutieren. Im Garten meines Hauses machte er Schießübungen mit der Luftpistole auf eine am Scheunentor angebrachte Zielscheibe, was meinen Nachbarn verdächtig vorkam. Sie alarmierten die Polizei, die beim Anblick des Autos mit Ostberliner Kennzeichen glaubte, endlich den Beweis für die Fernsteuerung der Anti-Atom-Bewegung durch Stasi-Agenten gefunden zu haben. Später tauchte Klaus Schlesinger in die Westberliner Hausbesetzer-Szene ein, der er sich – trotz des Altersunterschieds – mit Haut und Haaren verschrieb, als wolle er nachholen, was die DDR ihm vorenthalten hatte: eine spontane Jugendrevolte, wie sie 1968 die Bundesrepublik erschütterte. 1980 zog er in ein mit Brettern verbarrikadiertes Abbruchhaus auf der Potsdamer Straße, das allen Räumungsversuchen widerstand; später wurde die Besetzung legalisiert und das Kellerlokal im K.O.B. – so hieß das besetzte Gebäude im Szenejargon – erhielt eine Lizenz zum Bierausschank. Schlesingers Erfahrungen schlugen sich literarisch nieder in seinem Buch Matulla & Busch, das schon in der Figurenkonstellation an den als Protest-Opa belächelten Schriftsteller erinnert. Ein Rentner aus dem Ruhrgebiet erbt ein Mietshaus in Westberlin und muss an Ort und Stelle feststellen, dass es von Besetzern okkupiert worden ist. Statt die Polizei zu rufen, solidarisiert er sich mit den Hausbesetzern, wobei der Rentner sich in eine Studentin verliebt: Eros und Anarchie, Sex und Politik gingen in der Literatur wie im Leben eine unauflösliche Verbindung ein. Das Buch wurde von der taz vorabgedruckt und später verfilmt; dass das vom ZDF bestellte Drehbuch zuerst abgelehnt und dann mit Verspätung realisiert wurde, bestärkte Schlesinger in der Überzeugung, zwischen Ost- und Westdeutschland gäbe es keinen prinzipiellen Unterschied: Auch in der DDR habe der Weg durch die Zensur Jahre gedauert.
Im Mai 1984 reiste ich zusammen mit Klaus Schlesinger nach Nicaragua. Die Flugkosten zahlten wir selbst, aber in Managua waren wir Gäste der sandinistischen Regierung, deren Kulturminister Ernesto Cardenal Schriftsteller aus aller Welt einlud, sich ein Bild zu machen vom Überlebenskampf der von den USA bedrängten Revolution. Das Flugzeug war belegt mit Handwerkern aus Baden-Württemberg, die von Kuba verlangten, ihr Übergepäck – Nägel, Werkzeug und Baumaterial – gratis zu befördern. Nach Mitternacht landeten wir in Havanna und schliefen im Transitraum, dessen Verlassen verboten war; selbst ein Gang zur Toilette war nur unter Bewachung erlaubt.
Bei der Ankunft in Managua fühlte Klaus Schlesinger sich an die DDR erinnert, die Nicaraguas Behörden Amtshilfe СКАЧАТЬ